Vorschau auf die Strategiedebatte

Mehrere Monate Dauerwahlkampf haben für Grün allenthalben zu deutlichen Stimmenzuwächsen geführt. Durch die Gesamtkonstellation jedoch sind die Perspektiven unklar. Und so liegen die aktiven Parteimitglieder inklusive dem näheren und weiteren Umfeld nicht etwa erschöpft darnieder. Wie sich Bündnis 90/Die Grünen in den kommenden Jahren aufstellen, wird am Samstag auf der BDK in Rostock beherrschendes Thema sein, erst recht in den Bericht erstattenden Medien.

Der Korken namens „Loyalitätspflicht im Wahlkampf“ ist jedenfalls mit hörbarem Plopp von der Flasche geflogen. Es hagelt nun also einen ganzen Strauß Anträge zum Tagesordnungspunkt „Grüne Opposition (GRO)“. Anlass genug für einen selbstredend nicht wertfreien Versuch, hier etwas Ordnung hineinzubringen.

Natürlich ist zunächst der Bundesvorstand gefordert, der sich in Fragen grundsätzlicher Tragweite üblicherweise mit der Fraktionsspitze abspricht. Man darf also davon ausgehen, dass bei der Gestaltung des ersten Leitantrages GRO-01 die gesamte bekannte „Führungsriege“ ihre Finger im Spiel hatte. – Das Ergebnis ist ein Text der Marke „Bauchladen“, dem man deutlich das Bemühen ansieht, möglichst niemanden vor den Kopf zu stoßen. Die mehrfache Wiedergabe bekannter Programmpunkte liefert wenig Neues, und leider ist nicht einmal eine griffige Botschaft zu erkennen.

Wirklich bedenklich sind allerdings erst die handwerklichen Unzulänglichkeiten. Der Text verliert sich in Langatmigkeit und man fragt sich, wie der BuVo eigentlich arbeitet. Es wirkt gerade so, als ob jedeR ein bisschen was geschrieben hätte, was dann ohne große Überlegung einfach aneinandergeklebt wurde. Folglich gibt es, um hier das Schlimmste abzuwenden, eine Reihe von Änderungsanträgen, die meisten von einem Kreis um Robert Zion (Gelsenkirchen) und Peter Alberts (Münster). Ob man den Text so allerdings noch retten kann, wage ich zu bezweifeln.

Neben dem generellen und nicht auszurottenden Problem, in Grundsatzpapieren auf der Basis irgendwelcher gerade passender Zahlen zu argumentieren, fällt auch die mangelnde Selbstkritik unangenehm auf. Man darf die Stimmenverluste der SPD in Richtung Nichtwählerbereich ja erwähnen, nur sollte das nicht zu Schuldzuweisungen führen, solange man diese Verluste nicht selbst ausgleichen kann. Ziemlich verheerend wäre auch die öffentliche Wahrnehmung, die zum Beispiel zu nicht unberechtigten Schlagzeilen führen könnte, wie etwa „Sind die Grünen selbstzufrieden? Parteitag nickt halbherzigen Weiter-so-Kurs ab“.

Der zweite Versuch eines Leitantrages stammt aus der Feder von Dieter Janecek, Landesvorsitzender in Bayern und Andrea Lindlohr, Mitarbeiterin der Landtagsfraktion in Baden-Württemberg. Ich hatte ihn in einem früheren Beitrag bereits erwähnt, er nennt sich „Jenseits der Lager“ und wird unter GRO-03 geführt.

Meine Vorbehalte gegenüber diesem Antrag nochmal in aller Kürze. Auch hier wird mit wenig aussagekräftigen Zahlen gespielt und es wird penetrant auf „Machtoptionen“ verwiesen, Außerdem werden Dinge in einer Weise interpretiert, die die Realität nicht hergibt. So gab es im Bundestagswahlkampf ausdrücklich keine Festlegung auf eine Ampelkoalition, obwohl die Bundesspitze das mehrheitlich so wollte, doch die BDK sah es anders.

Die „Überwindung des Rechts-Links-Schemas“ impliziert, dass man die Grünen nicht mehr als „links“ verorten möchte, womit auch die Absage an Äquidistanz zu anderen Parteien bedenklich interpretationsoffen wird. Damit wird hier eindeutig eine Kursänderung angestrebt, die nicht nur im Widerspruch zu den in den letzten Jahren erfolgten Akzentänderungen gegenüber der rot-grünen Ära steht, sondern auch mit dem Vorwurf leben muss, keine Integration der gesamten Partei anzustreben. Ein Antrag, der bewusst in Kauf nimmt, sich gegen weite Teile der Basis (wozu nicht nur die Parteimitglieder gehören) zu stellen, spaltet.

Als besonderer Aspekt bleibt die regionale Schlagseite zu beachten. Dass die Hamburger ihre Koalition verteidigen, verstehe ich ja, dass die Berliner Wahlkampf gegen Rot-Rot führen müssen, auch. Dass es in Süddeutschland mit der SPD auf absehbare Zeit nichts werden kann, ist ja offensichtlich. Nur sind das eben Länderangelegenheiten, und dass hier sogar auf Konflikte reagiert wird, die innerhalb des Landesverbands Baden-Württemberg möglicherweise besser aufgehoben wären, spricht nicht gerade für so einen Antrag auf einer BDK. Zur vollständigen Erläuterung der Situation im Südwesten brauche ich allerdings noch einen Extrabeitrag, auch wenn das zunächst gar nicht so recht nach Greifswald zu passen scheint.

Auf GRO-03 folgende Schlagzeile wäre natürlich: „Kursänderung: Grüne öffnen sich nach Jamaika.“

Das darf meinetwegen gerne im Konjunktiv bleiben, zumal es ja auch noch GRO-04 gibt, der unter einem etwas sperrigen Titel „18 Thesen“ formuliert. Hauptverantwortliche sind Tarek Al-Wazir, Partei- und Fraktionsvorsitzender in Hessen, und das Parteiratsmitglied Arvid Bell. Der Kreis der AntragsstellerInnen deckt ein vergleichsweise breites Spektrum ab, auffällig ist auch für Außenstehende die Dominanz Jüngerer, so dass nicht ganz zu Unrecht Gegenpositionen zu einer allzu trägen Haltung an der Spitze von Bundespartei und Bundestagsfraktion vermutet werden.

Der Text ist nicht nur im Aufbau angenehm übersichtlich (es zahlt sich wohl aus, einen berufsmäßigen Schriftsteller im Team zu haben), sondern greift auch offensichtliche Kritikpunkte der anderen beiden Anträge auf. Die AutorInnen stellen Funktionsargumente in den Hintergrund und betonen den Wert längerfristiger Strategien. Auf einfache Schuldzuweisungen an die Adresse der SPD wird verzichtet. Eine Zuordnung zum linken politischen Spektrum wird weiterhin ausdrücklich erwünscht, in der Bewertung der konkurrierenden Bundestagsparteien wird die FDP in der Summe als uns am weitesten entfernte ausgemacht.

An die Adresse nicht integrativer Kräfte in der Partei richtet sich dieser Abschnitt: „Wer Koalitionsdebatten führt, um den Kurs der eigenen Partei in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen, macht die GRÜNEN schwach. […] Was in einem Bundesland auf Grund der Inhalte und der handelnden Personen vor Ort richtig ist, kann in einem anderen Bundesland oder im Bund falsch sein.“ Vielleicht sollten wir nur noch Winfried Kretschmann oder Boris Palmer (seine Politik in Tübingen finde ich ja gut, seine strategischen Äußerungen eher verzichtbar) mal nach Mecklenburg-Vorpommern einladen, damit sie das verstehen. Den Süddeutschen wird eine vielversprechende Strategie aufgezeigt. Wo man mit der SPD nicht mehr rechnen kann, müsse es der Anspruch sein, stärker als sie zu werden, wofür in einigen Bundesländern auch eigene KandidatInnen für das Amt der/des Regierungschefin/s angebracht sein können.

Was mich stört, ist die nach wie vor etwas zu reflexhafte Auseinandersetzung mit der Linkspartei. Nur wenn wir hier konkrete Perspektiven für gemeinsame Regierungen erkennen lassen, werden wir erfahren, wie ernst es diese mit manchen Punkten wirklich meint. Die Gründe, weswegen gerade im Osten trotz durchaus ähnlicher Programme die WählerInnenschaft von Grünen und Linkspartei vollkommen unterschiedlich zusammengesetzt ist, sind ja auch darin zu suchen, dass gerade für die Ost-Wählerschaft der Linkspartei habituelle Kategorien wichtiger sind als ein Programm, deren umweltpolitischer Teil ihr in der Regel herzlich egal ist. Auch solche Dinge könnten ruhig mal strategisch berücksichtigt werden.

Zu welchen Reaktionen eine durchaus nicht unwahrscheinliche Annahme von GRO-04 führen wird, ist wiederum schwer abzuschätzen. Einige (zum Beispiel Bütikofer via Twitter) mäkeln, vieles klinge zu sehr nach SPD. In den Medien haben sich viele schon auf die Herausarbeitung des innergrünen Konflikts „Junge gegen Alte“ geeinigt, was mich persönlich aber wenig stören würde.

Festzustehen scheint mir bislang nur, dass der Bundesvorstand die Debatte unterschätzt hat und nun nach irgendeiner geeigneten Strategie suchen muss, da ohne Gesichtsverlust wieder herauszufinden.

Und als wäre das noch nicht genug, gibt es einen zusätzlichen Antrag GRO-05. Dass da alle Vorsitzenden bzw. SprecherInnen der 13 Landtagsfraktionen dahinterstehen, wirkt auf den ersten Blick wie ein überzeugendes Argument. Doch nicht erst die öffentlichen Reaktionen zeigen auch hier einige Probleme auf.

Einen Kurs der Beliebigkeit nämlich kann man allzu leicht aus diesem Text herauslesen. Und so wichtig die Arbeit in den Ländern ist, so sehr schimmert für mich zwischen den Zeilen der Versuch durch, gegenüber einer mutmaßlich etwas nach links gerückten Bundestagsfraktion in Konkurrenz treten zu wollen. Weil diese mit 17 zusätzlichen Abgeordneten einige neue Möglichkeiten hat, Themenbereiche intensiver abzudecken, besteht da aber an sich kein vordringlicher Bedarf. Abgesehen davon empfinde ich es als ärgerlich, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern einfach ganz wegzulassen. Hat man die dortigen Landesvorstände wenigstens gefragt?

Es gäbe natürlich auch noch die Option „Against All“. Da man aber nicht erwarten kann, die eigene Position in einem umfassenden Antrag punktgenau wiederzufinden, wird fast jedeR kleinere Kompromisse eingehen müssen.

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