Einiges zur notwendigen Reform des Bundestagswahlrechts

Zur Erinnerung: Das bisherige Bundestagswahlrecht ist verfassungswidrig. Die Kombination aus nicht ausgeglichenem Überhang und parteiinterner Unterverteilung führt regelmäßig zum Auftreten des „negativen Stimmgewichts“, wodurch Intention und Wirkung der Stimmabgabe in entgegengesetzte Richtungen laufen können. Die Frist, die das Verfassungsgericht zur Herstellung einer grundgesetzkonformen Regelung gesetzt hatte, war schon lang genug, eigentlich zu lang, wie alle wissen, die selbst ein wenig rechnen können. Die nun vorliegenden Vorstellungen der Bundesregierung zum Thema wiederum beweisen, dass auch sehr langes Nachdenken nicht immer nützt. Die Rückwärtsgewandtheit dieser Regierung erreicht neue Dimensionen, denn vorgeschlagen wird allen Ernstes eine Rückkehr zum Wahlsystem von 1953.
Für Jüngere, denen das nicht mehr geläufig ist, die kurze Erklärung: Nicht ausgeglichene Überhangmandate sollen bleiben, die Unterverteilung entfällt ganz, dafür enthalten alle Bundesländer vorab feste Sitzkontingente.
Das führt dann absehbar zu Effekten, die die Verfassungsmäßigkeit aus anderen Richtungen massiv gefährden, vor allem den Grundsatz der gleichen Wahl. Denn überrepräsentiert werden so (a) Bundesländer mit geringer Wahlbeteiligung, (b) Bundesländer mit viel Überhang. Insbesondere große heterogen strukturierte Länder wie Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen kommen im Vergleich dazu schlecht weg. Auf der Ebene der Parteien begünstigt das Verfahren willkürlich bestimmte Parteien aufgrund der Struktur des Parteiensystems. Natürlich sind es CDU und CSU, die hoffen, hier einen Vorteil zu erlangen. Der größere Pluralismus des linken Spektrums würde diesem zum Nachteil gereichen. Auch das darf nicht Zielsetzung eines Wahlsystems sein. Durch mögliche Ausgleichsregelungen würden die Probleme auf der Ebene der Parteien teilweise abgemildert – wobei weiterhin solche Parteien benachteiligt sind, die ihre Hochburgen in überhangarmen Bundesländern haben. Andere Fehler bleiben oder werden verschärft.
In der Diskussion traut sich niemand, leider auch nicht namhafte Grüne, das Wahlsystem grundsätzlicher in Frage zu stellen. Denn die Kombination aus Einerwahlkreisen und starren Parteilisten schreibt das Grundgesetz nirgends vor. Problem und Anachronismus sind hier in erster Linie die Einerwahlkreise.
Die Einerwahlkreise wurden einst damit begründet, dass man die Verhältniswahl um Elemente der Personalisierung ergänzen möchte. Auch das Ziel einer angemessenen Vertretung aller Regionen in einem Flächenstaat wird oft genannt. Beide Ziele sind nach wie vor gerechtfertigt. Doch durch bloße Einerwahlkreise werden sie nicht wirklich erreicht. So ergibt sich die regionale Vertretung immer nur für eine Partei, was in ungünstigen Fällen sogar zu der Situation führt, dass für diese dann andere größere Bereiche gänzlich weiß bleiben, wie etwa bei der CDU derzeit Nordhessen. Von „meinem“ Wahlkreisabgeordneten des WK 16 fühle ich mich im Bundestag momentan jedenfalls nicht „vertreten“, denn von vielen seiner Positionen in wesentlichen Fragen halte ich nichts, also habe ich eigentlich gar keinen Wahlkreisabgeordneten. Vielen geht es genauso. Inzwischen werden die meisten Direktmandate für Stimmenanteile unter 50% vergeben, in Berlin zum Teil sogar unter 30%. Ursächlich hierfür ist wiederum der Wandel des Parteiensystems. Wo es keine wirklich „großen“ Parteien mehr gibt, hat die relativ größte oft gute Chancen auf fast alle Direktmandate und damit auf Überhang. Womit es sachlich gerechtfertigt sein soll, mit 34% fast alle Wahlkreismandate zu holen, kann vermutlich niemand schlüssig erklären.
Nun gibt es durchaus Möglichkeiten, Regionalisierung, Elemente der Personalisierung durch WählerInnen und den Ausschluss von Überhangmandaten sinnvoll miteinander zu kombinieren, nur werden diese im politischen Raum nicht diskutiert. Die entsprechenden Verfahren sind einander nicht unähnlich, meist liegt die Lösung in einem ersten Verteilungsschritt in kleinen Mehrmandatswahlkreisen mit anschließendem Verhältnisausgleich.
Ein Extremverfahren, das aber auf seine Weise genial ist, bietet hierzu die biproportionale Methode an, die in der Schweiz bereits an verschiedenen Orten Anwendung findet. Mit diesem Verfahren können letztlich alle Mandate gleich in Mehrpersonenwahlkreisen vergeben werden. Für ein großes Parlament wie den Deutschen Bundestag ist aber wohl dennoch ein mehrstufiges Verfahren – erst Verteilung auf Parteien und Bundesländer, dann in 14 Bundesländern nochmal auf Regionallisten – notwendig.
Weniger extrem wäre die Einführung von Mehrpersonenwahlkreisen, wenn man etwa 2/3 bis 3/4 aller Sitze in diesen Wahlkreisen vergeben würde und den Rest für den Verhältnisausgleich nutzen würde. Diese Mehrmandatswahlkreise wären zur Wahrung einer möglichst exakten Verteilung auf die Regionen idealerweise nicht zu groß (etwa 3 bis 6 Sitze). Bis zu einem Wahlkreisanteil von 75% fällt hier auch so gut wie nie Überhang an – und wenn doch mal, so könnte man einen internen Ausgleich vorsehen. Um Überhang durch kleinere Listen zu vermeiden, bietet sich für das erste Verfahren eine Mandatsverteilung nach der skandinavischen Methode an (gegenüber Sainte-Laguë wird der erste Divisor im Höchstzahlverfahren von 0,5 auf 0,7 angehoben).
Dass auch Grüne solche Überlegungen scheuen, liegt nun – zumindest teilweise – an nochmal anderen Dingen. Anlässlich der Programm-LDK in Baden-Württemberg verbreitete ich entsetzt per Twitter die Frage, weswegen sich unser Landesverband dort für die Einführung eines Wahlsystems analog zum Bundestagswahlrecht, bloß mit vollem Überhangausgleich, aussprechen möchte. Meinem Vorschlag, Mehrmandatswahlkreise in die Debatte einzubringen, wurde entgegnet, das gäbe Probleme mit der Quote. Aus baden-württembergischer Sicht ist der Einwand nachzuvollziehen, da das derzeitige System ohne Landeslisten, in dem der Verhältnisausgleich über die Vergabe von „Zweitmandaten“ an unterlegene WahlkreiskandidatInnen hergestellt wird, bisher immer zu Männerüberschüssen in grünen Landtagsfraktionen geführt hat.
Die Quote ist aber in diesem Zusammenhang lediglich ein Argument für starre Parteilisten, nicht aber für Einerwahlkreise. Und in demselben Baden-Württemberg sind für den 27.3. zwischen fünf und zwölf grüne Direktmandate zu erwarten, welche eine Quote natürlich auch durcheinanderbringen können. Eine Quote in Reinform kann es letztlich nur geben, wenn man auf Einerwahlkreise komplett verzichtet. Auch die SPD hat bekanntlich quotierte Listen, was ihren Frauen aber oft nichts nützt, solange die Männer die meisten Mandate schon direkt in den Wahlkreisen gewinnen. Grünerseits könnte die Abgeordnetenhauswahl in Berlin in dieser Hinsicht interessant werden, da drohen sogar grüne Überhangmandate.
Mit einer Kombination aus Mehrpersonenwahlkreisen und Verhältnisausgleich ist die Quotierung für mittelgroße Parteien im Zweifel sogar besser herzustellen als mit allem, was Einpersonenwahlkreise enthält. Natürlich sind so oder so die grünen Frauen gefordert, bei KandidatInnenaufstellungen taktisch zu denken und zu handeln. So wäre es im Zweifel unklug, auch noch solche Männer mit vorderen Listenplätzen zu beschenken, die nirgendwo aussichtsreich in einem Wahlkreis kandidieren. Auch die Wahlkreiskandidaturen selbst gewinnen an Bedeutung.
Argumente für die derzeitige Kombination aus Einerwahlkreisen und starren Listen finde ich jedenfalls nach wie vor so gut wie keine. Erst recht nicht in der Variante von 1953.

Ein Kommentar bei „Einiges zur notwendigen Reform des Bundestagswahlrechts“

  1. Interessante Gedanken/Vorschläge, die nur eine Beharrungskonstante außer Acht lassen, den deutschen Poltiprofi.
    Quer durch alle Parteien sind Grundkenntnisse der Mathematik oder elementarer Logik ein negatives Ausscheidungsmerkmal für eine halbwegs erfolgreiche Karriere.
    Ein exemplarisches Beispiel liefert hier der Shooting-Star der FDP:
    http://www.youtube.com/watch?v=1gVSRXrJVjk

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.