Bundestagswahlrecht: Ein unfassbar schlechter Gesetzentwurf

Zunächst war da das negative Stimmgewicht. Durch die Kombination aus Überhangmandaten und Unterverteilung kann im derzeitigen Bundestagswahlrecht der Fall auftreten, dass eine Stimme für eine Partei sich zu ihren Ungunsten auswirkt. Das Bundesverfassungsgericht sagte dann folgerichtig, das sei so nicht verfassungsgemäß. Und setzte eine unverständlich lange Frist.
Dann kam von den jeweiligen Mehrheitsparteien lange nichts. Die Frist läuft morgen aus. Ein verfassungsgemäßes Bundestagswahlrecht haben wir nicht, obwohl die grüne Bundestagsfraktion bereits vor der Wahl 2009 einen Entwurf vorlegte, der das negative Stimmgewicht beseitigt.
Was wir haben, ist nun ein Entwurf der schwarzgelben Koalition.
Er ist verfassungswidrig, weil er das negative Stimmgewicht nicht beseitigt und damit letztlich wertlos.
Angestrebt wurde eine Version, die eine Ursache des negativen Stimmgewichts in seiner derzeitigen Form, die verbundenen Landeslisten, abschafft, aber die besonders von der CDU so geliebten Überhangmandate beibehält. Das konnte nicht gutgehen. Wahrscheinlich sitzt im gesamten Bundestag niemand, der mathematisch begabt genug wäre, das verfassungsgemäß zu lösen. In CDU, CSU und FDP erst recht nicht.
Gab es bisher negatives Stimmgewicht nur in Verbindung mit Überhangmandaten, so soll es jetzt auch ohne diese gehen. Der Mechanismus ist ganz einfach zu verstehen. Durch meine Stimme kann ich meinem Bundesland einen Sitz mehr verschaffen und einem anderen Land einen Sitz weniger. Der Sitz weniger könnte ohne meine Stimme aber an meine Partei gehen, der Mehrsitz an die Konkurrenz.
Alles nicht so schlimm, schreiben die Koaltionsfraktionäre, schließlich gebe es da ja noch die sogenannte Reststimmenverwertung. Die ist eine Konzession an die FDP und beschreibt grob einen Mechanismus, über den zusätzliche Mandate vergeben werden, wenn die Addition aus den Sitzen der unverbundenen Listen nicht aufgeht. Dieser Mechanismus ist dabei erstens im Gesetzentwurf möglicherweise nicht einmal eindeutig formuliert. Zweitens stellt er keine proportionale Verteilung her, nicht einmal, wenn es keinen Überhang gibt. Drittens beseitigt er das negative Stimmgewicht nicht. Denn auch die Frage, wieviel es für einzelne Parteien aus der Reststimmenverwertung gibt, ist abhängig davon, wie sich die Sitze auf die Länder verteilen und weiterhin kann von meiner Stimme eine Partei profitieren, die ich nicht gewählt habe. Weil die Wirkung jetzt aber einigermaßen kryptisch ist, hofft die Koaltion offenbar, das Verfassungsgericht würde das nicht merken, anders ist der Entwurf nicht zu erklären, jedenfalls nicht mit Vernunft und Logik. Kauder und Brüderle gehen aber offenbar davon aus, dass andere Menschen genausowenig Durchblick haben wie sie selbst.
Negatives Stimmgewicht durch Überhang wird es selbstverständlich auch weiterhin geben. Auch hier ist die Entstehung weniger leicht zu beschreiben als vorher, aber auch hier macht das den Entwurf nicht weniger verfassungswidrig.
Auch das, was in den begleitenden Ausführungen zum Entwurf unter „Alternativen“ zu finden ist, verdient diesen Titel nicht. So ist das Kompensationsmodell des grünen Entwurfs von 2009 dem vorgelegten Entwurf immer vorzugswürdig, weil es eben das negative Stimmgewicht komplett vermeidet. Dass die CDU dadurch 2009 überhaupt kein Listenmandat bekommen hätte, ist dabei nachrangig, wenngleich auch kein besonders eleganter Effekt.
Der hat nun aber im Grundsatz eine andere Ursache, die seriös angegangen werden könnte, würde die Auflistung der Alternativen auch vollständig sein. Und wer meine Beiträge zum Wahlrechtsthema kennt, ahnt, was jetzt kommt:
Ohne Einerwahlkreise hätten wir nämlich diese ganzen Probleme nicht. Und noch mehr: Zur Herstellung von Personalisierung und Regionalisierung der Wahl innerhalb eines Verhältniswahlsystems sind Einerwahlkreise nicht nur nicht notwendig, sondern auch nicht einmal die günstigste Variante. Solange also Varianten wie Listenpersonalisierung, Mehrmandatswahlkreise oder biproportionale Methode nicht diskutiert werden sollen, ist eine vollständige Auflistung der Alternativen nicht gegeben.
Die schwarzgelbe Bundesregierung möchte lieber das negative Stimmgewicht behalten und sich damit vom Boden der Verfassung entfernen.

Ein Kommentar bei „Bundestagswahlrecht: Ein unfassbar schlechter Gesetzentwurf“

  1. […] von Leuten, die sich damit auskennen, gerne ignoriert, ist spätestens seit der peinlichen Novelle des Bundestagswahlrechts bekannt. Da stellen sich die Union und diese anderen – wie hießen die […]

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