Mehr Hochgeschwindigkeitsstrecken im Bahnnetz forderte die OZ gestern auf Seite 7 („Lücken im Schienennetz bremsen neuen Superzug aus“), für Nichtabonnierende leider nicht online einsehbar. Was sich auf den ersten Blick ganz nett – schnell Bahnfahren ist ja etwas Schönes – anhört, ist bei genauerem Hinsehen eine unreflektierte Übernahme eines Beitrages, der es mit sachlicher Argumentation nicht so genau nimmt.
Beispiel 1: Es wird beklagt, dass es „nördlich von Hannover“ keine Hochgeschwindigkeitstrassen gebe. Schlimm ist das aber nicht. Zahlreiche Ausbautrassen lassen in Norddeutschland Tempo 200 zu, zwischen Hamburg und Berlin sind sogar 230 km/h möglich. Ein Hochgeschwindigkeitsnetz allein leistet noch keine Beschleunigung im Gesamtnetz. Weswegen eine Beschleunigung von niedrigen auf mittlere Geschwindigkeiten oft effektiver ist, als kleine (Zeit-)Gewinne für hohe Investitionen zu erzielen, zeigt folgendes Rechenbeispiel:
Gegeben sei eine Strecke von 100 km Länge, die durchgängig mit einer Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h befahren werden kann (wie zum Beispiel aktuell zwischen Neubrandenburg und Stralsund). Die Reisezeit beträgt ohne Halte somit 60 min. Durch eine Beschleunigung auf durchgängig 160 km/h verkürzt sich die Reisezeit um 22,5 min auf 37,5 min, Ein weiterer Ausbau auf Hochgeschwindigkeit (300 km/h) bewirkt lediglich eine Verkürzung der Fahrzeit um 17,5 min auf 20 min. Effektiver ist es also, erstmal das gesamte Netz für den überregionalen Verkehr auf 160 km/h auszubauen.
Diese Marke hilft auch, das Ganze wirtschaftlich zu halten. Alles, was über 160 km/h hinausgeht, ist aus zwei Gründen teuer. Denn erstens sind dann keine niveaugleichen Bahnübergänge mehr erlaubt. Zweitens ist der Einsatz der linienförmigen Zugbeeinflussung (LZB) zwingend erforderlich.
Beispiel 2: Der Artikel beklagt zu viele Zwischenhalte für den ICE. Das Bashing gegen die genannten Orte übersieht dabei völlig, dass wir und die OZ uns in Mecklenburg-Vorpommern befinden, wo es kaum richtig große Orte gibt. Da wird zum Beispiel über den ICE-Halt Göttingen gelästert. Göttingen ist eine Universitätsstadt mit 120.000 Einwohner_innen. Würden solche Orte vom Fernverkehr generell nicht berücksichtigt, bräuchten wir in Vorpommern gar nicht erst darüber nachzudenken, leise zu husten, wenn hier mal wieder eine IC-Verbindung in Frage gestellt wird. Die Halte Montabaur und Limburg Süd sind tatsächlich fragwürdig, aber so viele ICEs halten dort gerade nicht.
Beispiel 3: Auf der anderen Seite wird das Prinzip des Bahnhofes Limburg Süd an anderer Stelle propagiert. Man brauche „Bahnhöfe am Stadtrand“, wie in Frankreich. Dort gibt es tatsächlich ein paar Halte im Nichts. Merkmal ist meist die fehlende Einbindung ins restliche Netz. Dass es umgekehrt auch möglich ist, die Zufahrtsstrecken zu den bestehenden, günstig gelegenen Bahnhöfen auszubauen, zeigt die Schweiz. Die beiden größten Verspätungsfallen im deutschen Bahnnetz wiederum sind die Hauptbahnhöfe der Millionenstädte Hamburg und Köln, übrigens beides Durchgangsbahnhöfe mit vergleichsweise wenigen Gleisen. In Hamburg oder Köln am Stadtrand zu halten kann aber wirklich niemand ernsthaft fordern.
Beispiel 4: Wirkliche Mängel und Ärgernisse im Fernverkehrsnetz erwähnt der Artikel nicht. Da wäre einmal der Abschnitt Wolfsburg – Braunschweig – Hildesheim – Sorsum zu nennen, der mit drei eingleisigen Abschnitten die Kapazität der ICE-Linie Berlin – Frankfurt begrenzt und außerdem für große Teile des Fahrplans keinen Spielraum lässt. Zwei der eingleisigen Abschnitte sind zu allem Übefluss auch noch Neubauabschnitte. Systemrelevant und doch vernachlässigt ist ferner der Ausbau der stark frequentierten Strecke Frankfurt – Mannheim, der Rumpelpause auf dem Weg nach Süden. Hier eine Schnellfahrstrecke zu bauen, dürfte angesichts des ebenen Geländes sogar vergleichsweise einfach sein. Gleichzeitig liefert das Gelände auch den Grund, weswegen sich da nichts tut: Denn an einer solchen Strecke könnte ja kein Tunnelbauunternehmen verdienen.
Zusammenfassung: Der Artikel in der OZ vom 28.01.2012 über „Lücken im Bahnnetz“ ist in weiten Teilen interessengeleiteter Mist. Vor allem: Die Umsetzung der dort aufgestellten Forderungen würde Menschen in Mecklenburg-Vorpommern, von denen die Zeitung hauptsächlich gelesen wird, gar nichts bringen.