Angst vor Veränderung?

Wenn ich jetzt, drei Tage vor der Wahl, in diesem Blog einen Wahlaufruf abgebe, dann ist vermutlich weniger interessant, wen ich empfehle. Ich bin gegenüber meiner Partei nicht nur loyal, ich bin von ihren Grundsätzen und ihren konkreten Inhalten auch überzeugt.
Für Menschen, die jetzt möglicherweise noch unentschlossen sind, ist an diesem Text daher vor allem die Begründung von Interesse.

Die konservative Agenda
Die Konservativen, die gesamte rechte Seite des politischen Spektrums, hatten und haben keine Inhalte in diesem Wahlkampf, sie hatten und haben keine Argumente. Wenn sie nicht versucht haben, rechtsgerichteten Populismus zu verbreiten, war das Einzige, was ihnen blieb und bleibt, das Schüren von Angst. Angst vor Veränderung. Erst wurden mit der eigenen Politik der letzten acht Jahre Fehlentwicklungen eingeleitet und „schwere Zeiten“ geschaffen, und nun nutzt man diese „schweren Zeiten“ als Vorwand, gerade jetzt dürfe sich nichts ändern. Verschiedene Ängste werden geschürt, verschiedene Interessen spielen eine Rolle.

Lobbyismus
Energiekonzerne sind an einem Scheitern der Energiewende interessiert, weil sie durch eine dezentrale Energieversorgung an Macht verlieren. Geschürt wird die Angst vor hohen Energiekosten. Das ist natürlich Quatsch, da die Energiewende die Preise langfristig sinken lässt, denn Erneuerbare sind nicht abhängig von teuren Rohstoffen. Um das Schreckgespenst aufzubauen, wurden in den letzten vier Jahren massiv Energiekosten großer Betriebe durch sinnlose Ausnahmeregelungen sozialisiert.
Die Agrarindustrie fürchtet das Ende der Massentierhaltung. Fünf Grüne Agrarminister_innen in den Ländern haben gezeigt, dass wir es ernst meinen. Klar ist auch: Wer aus der Massentierhaltung aussteigen will, muss auch mit dem Konsum billigen Fleischs aufhören. Das eine ohne das andere geht nicht. Aber auch davor muss niemand Angst haben. Im Gegenteil. Das Essen wird so reichhaltiger und besser.
Und die Rüstungskonzerne möchten weiterhin gerne Geschäfte mit Diktatoren machen. Hier ist jede Menge Geld im Spiel.
Die Konzerne haben Angst. Zu Recht.

Egoismus
Für immer mehr Bürger_innen ist das Gemeinwohl nachrangig gegenüber der Frage, was die Wahl einer Partei einer oder einem ganz persönlich bringt. In der Wahlforschung nennen das einige „Rational Choice“, das ist eine euphemistische Umschreibung der Herangehensweise, nach der kurzfristige egoistische Motive die Wahlentscheidung bestimmen. Dieser Appell an das reine Ich bedeutet auch: Wer nicht das Blaue vom Himmel verspricht, sondern auch vor der Wahl sagt, dass ein kleiner Teil der Menschen größere Lasten schultern muss, bekommt es mit der Angst dieser Menschen zu tun. Mit der Angst, etwas zu verlieren. Etwas Materielles. Die oberen zehn Prozent der Einkommenspyramide rechnen sich arm, sie würden so gerne die „Mittelschicht“ sein. Sind sie aber nicht. Die Angst vor einer gerechteren Verteilung gesellschaftlichen Reichtums sucht sich den Weg der verzerrten Wahrnehmung und des Realitätsverlustes. Es können nicht alle mehr vom Kuchen bekommen. Es ist die Angst, dass tatsächlich nicht sein kann, was rechnerisch unmöglich ist.

Sicherheit
Der Begriff der „Sicherheit“ im politischen Raum ist kaputt. Jahrzehntelange Angstkampagnen vor „Kriminalität“, „Terrorismus“ oder „Extremismus“ haben alles Mögliche gebracht: Überwachung, Repression, außer Kontrolle geratene so genannte „Verfassungsschützer“, überzogene Gesetze. Was sie nicht gebracht haben: Mehr Sicherheit. Wie auch, wenn gerade der Terror von Rechts und die Kriminalität von Neonazis nicht richtig bekämpft werden, außer an vielen Orten von einer mündigen Zivilgesellschaft. Der „Extremismus“ wiederum ist ein Konstrukt, um genau diese zu behindern.

„Demographischer Wandel“
Ich kann es nicht mehr hören. Der „demographische Wandel“ wird so beschrieben, als komme er vom Himmel oder aus dem Nichts. Eingesetzt wird das Motiv, damit Menschen Angst vor Verödung der eigenen Region bekommen. Geschürt von denen, die diese Verödung erst herbeigeführt haben, durch den Abbau der Versorgung in den Bereichen Bildung, Kultur, Mobilität und Gesundheit. Motiv hinter dem Motiv: Wer an einem anderen als einem konservativen Lebensentwurf interessiert ist, die und den setzt die eingeschränkte Versorgung unter Druck und stiehlt ihnen Zeit.

Globale Zusammenhänge
Wir wissen alle, dass internationale Konflikte durch Entscheidungen, die in Deutschland getroffen wurden, maßgeblich beeinflusst worden sind. Wir wissen, dass unser Konsum in anderen Weltregionen zu menschlichem Leid und zu Spannungen beiträgt. Wir wissen, dass wir in Europa nur deswegen „gut dastehen“, weil dank gemeinsamer Währung und langjähriger Lohnzurückhaltung sich in Deutschland gefertigte Produkte auch anderswo gut verkaufen. Deutsche Unternehmen profitieren direkt von der Strukturförderung der EU für die Staaten in Südeuropa, indem sie die Tunnel spanischer Schnellfahrstrecken bohren.
Wir wissen das. Wir müssten das alles wissen, aber wir verdrängen es. Denn wir wissen auch: Wenn wir unserer globalen Veränderung gerecht werden wollen, müssen wir etwas ändern. Lebensweise, Konsum, Verteilung.

Bis hierhin reicht die Beschreibung nur, um das Klima der Apathie und des Mehltaus zu erklären, das die Auseinandersetzungen vor der Wahl lange Zeit bestimmte.

Gesellschaftspolitische Reaktion
Was daher noch fehlt, ist das Motiv für breite Empörung, für Mobilisierung. Was noch fehlt, ist der Generalangriff auf die, die man dafür hasst, dass sie entscheidend zur Veränderung der Gesellschaft in den letzten zehn, zwanzig, dreißig Jahren beigetragen haben.
Irgendwas mit viel Empörung.
So wurde also eine „Pädophilie-Debatte“ konstruiert, die an Verlogenheit ihresgleichen lange suchen muss. Sie hatten es einst gewagt, Debatten über eine überkommene und falsche Sexualmoral zu führen. Sie wurden von einigen Menschen getrollt, die die Debatte instrumentalisierten, indem sie zu den Paragraphenzahlen 175 und 182 auch noch zwei andere Zahlen aus diesem Bereich einschmuggeln wollten. Denen wurde schon vor über 20 Jahren unmissverständlich klargemacht, dass sie unerwünscht sind, weil sie dem Ziel schadeten, eine Gesellschaft zu ermöglichen, in der Frauen, Lesben, Schwule und Transgender endlich nicht mehr diskriminiert werden.
Durchaus mit Erfolgen: Schwule und Lesben können eingetragene Lebenspartnerschaften eingehen, gegen die volle Gleichstellung sperren sich die Konservativen. Vergewaltigung in der Ehe ist strafbar, die Konservativen sperrten sich noch 1997 dagegen. Die gewaltfreie Erziehung ist Gesetz, 2000 endlich beschlossen gegen die Stimmen der Konservativen. Da ist noch einiges an Vergangenheit aufzuarbeiten.
Die Tageszeitung taz ist an der Debatte maßgeblich beteiligt, man möchte fast sagen, die Debatte verläuft mitten durch die Zeitung. Es wäre geradezu bizarr zu nennen (wenn dieser Begriff nicht als Beiwort für unkundige Erwähnungen von BDSM entwertet worden wäre), mindestens jedoch fällt die taz als Berichterstatterin in diesen Tagen aus. Neben einem Deutungskampf in Sachen Pädophilie, der die eigene Rolle in den Achtzigerjahren seltsam ausspart, lieferte die taz einen misslungenen, weil rassistischen Interviewversuch mit Philipp Rösler, dessen Freigabe dieser zu Recht verweigerte, und darüberhinaus nur noch Belangloses und Albernes. Und der taz-Autor Füller merkt vermutlich gar nicht, dass er sich so ziemlich derselben Methoden bedient wie jene oben beschriebenen, die Anfang der Achtziger versuchten, grüne Parteiversammlungen unter Druck zu setzen.
Was der rechtsgewendete Füller im Grunde genauso bekämpft wie die anderen konservativen Angstmacher, ist die offene Gesellschaft. Um die geht es bei dieser Wahl. Es geht um die offene Gesellschaft.
Es ist kein Zufall, dass sich die Angriffe gegen die offene Gesellschaft an BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN entladen. Wir stehen wie keine andere Partei für eine Gesellschaft, die allen Menschen ohne Ansicht von Gender, Herkunft, Aussehen, sexueller Orientierung oder Begabungen ein gleichberechtigtes freies Zusammenleben ermöglichen möchte. Unsere Grenzen sind die Grenzen der und des anderen, sind die Grenzen des funktionierenden Gemeinwesens und der natürlichen Lebensgrundlagen.
Grüne Politik hat in den vergangenen Jahren auf diesem Gebiet bereits viel erreicht, Errungenschaften, die uns selbstverständlich geworden sind.

Stimme für die offene Gesellschaft
Das Klima der letzten Wochen zeigt aber deutlich: Die Reaktion schäumt.
Es gibt massive Angriffe auf die Idee des Zusammenwachsens in Europa und des Überwindens von Grenzen.
Es gibt massive Angriffe auf die Idee der Einen Welt.
Wir erleben subtile und offene Formen von Rassismus, Antiziganismus, Nationalismus und weitere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Repräsentant_innen der Konservativen sehen tatenlos zu. Vieles kommt aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Und es gehe um Deutschland. Das ist so hohl, wie kann ein Land wichtiger sein als Menschen?
Isolationismus, Abschottung, die Verweigerung globaler Verantwortung ist weit verbreitet.
Breite Überwachung weiter Lebensbereiche erfährt viel stillschweigende Akzeptanz, Menschen glauben, sie hätten ja nichts zu verbergen, meinen, wer nichts macht, mache auch keine Fehler. Dabei ist das Nichtstun der Fehler.
Homophobie und Sexismus werden relativiert, verharmlost und bagatellisiert.

Eigentlich sollten wir es jetzt verstanden haben: Das, was die konservative Reaktion hasst, ist die offene Gesellschaft.

Wer die offene Gesellschaft erhalten und weiterentwickeln möchte, wer keine Angst davor hat, dass sich diese Gesellschaft ständig verändern wird, der und dem macht GRÜNE Politik ein überzeugendes Angebot. Wir GRÜNEN wollen, dass Ihr Euch und Eure Begabungen weiter entfalten könnt und dass Ihr Eure Ideen verwirklichen könnt.

Ein Kommentar bei „Angst vor Veränderung?“

  1. danke, kay! schön, dass du auf den begriff der offenen gesellschaft kommst – war das nicht popper, der ihn hochhielt, und von den sich damals links verstehenden als konservativ / reaktionär bekämpft wurde. eine offene gesellschaft wünsche ich mir auch, und grüns könnten dafür stehen, so, wie du eine offene gesellschaft charakterisierst.
    „sicherheit“ ist ein traum/albtraum) (ein märchen, so l. marcuse). diesem trugbild hinterher zu jagen empfiehlt uns die angst. wenn wir sie nicht überwinden. diese Erkenntnis befreit. in wirklichkeit gibt es keine Sicherheit. oder vielleicht höchstens die der ständigen veränderung.

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