Fernpendeln liegt im Trend

Aus reiner Wahlkampftaktik, keineswegs aufgrund irgendwelcher Überzeugungen hat der Bundeswirtschaftsminister mit den vielen Vornamen eine Giftliste mit einigen feuchten Träumen der Neolibs offiziell zurückgezogen.

Gleichwohl ist natürlich längst bekannt, was drinsteht, und zu vielen der angesprochenen Themen muss nicht mehr viel gesagt werden. Was mir jedoch auffiel, war der Punkt „Ausweitung der Leiharbeit“. Diese Forderung nach praktisch unbegrenzter Flexibilität und Mobilität von Arbeitskräften soll einen Trend verstärken, der ohnehin schon seit Jahren unübersehbar um sich greift: Wanderarbeit ist modern, Fernpendeln erst recht. Der eigene Bekanntenkreis liefert ohne langes Nachdenken die passenden Beispiele.

Kandidat Nummer eins ist durch ein Informatikstudium zu DDR-Zeiten gut qualifiziert, mit gefragten speziellen Fähigkeiten ausgestattet und schon seit über zehn Jahren Wochenendpendler. Familie und Lebensmittelpunkt sind weiter in Greifswald, doch die Kunden, die er freiberuflich betreut, mehrere hundert Kilometer entfernt. Früher hat sich der Kandidat politisch und gesellschaftlich engagiert, heute ist das nicht mehr möglich. Viel Zeit bleibt schon auf der Reisestrecke, die aufgrund der gesetzlichen Regelung zum Thema „Dienstwagen“ regelmäßig auch mit dem KfZ zurückgelegt werden muss, um den dienstlichen Nutzungsanteil des Fahrzeugs über 50% zu halten.

Kandidat zwei ist ebenfalls fest verwurzelt in Greifswald, doch seine seit zwei Jahren ausgübte Tätigkeit in der IT-Branche erfordert aufgrund größerer Kundennähe einen Wohnsitz im Rheinland. Verantwortungsvolle Mobilität wird dem Kandidaten dadurch erschwert, dass der Arbeitgeber branchenüblich die Mobilitätskosten pauschal vom Gehalt abzieht, so dass sogar das privat verfahrene Benzin de facto vom Arbeitgeber subventioniert wird. Als Ausgleich sind auch für diesen Kandidaten die Möglichkeiten gesellschaftlichen Engagements eingeschränkt, da gefühlter und juristischer Lebensmittelpunkt 700km auseinanderklaffen.

Kandidat drei ist Handwerker und hat sich vor einigen Jahren aufgrund der örtlichen Beschäftigungs- und Vergütungssituation ins besser bezahlte Ausland orientiert. Entsprechende Aufenthalte in Skandinavien oder der Schweiz finden dabei meist blockweise über einen Zeitraum von mehreren Monaten statt. In dieser Zeit ist die Teilnahme am öffentlichen Leben des offiziellen Wohnsitzes Greifswald nicht möglich. Die Mobilitätserfordernisse sind hier zunächst weniger kritisch zu beachten, sieht man davon ab, dass die ARGE der dringenden Auffassung ist, für dieses Berufsbild wäre eine Fahrerlaubnis unbedingt erforderlich und daher als förderungswürdig anzusehen.

Einige gemeinsame Merkmale aller Beispiele fallen auf: Mobilität wird ohne Rücksicht auf etwaige ökologische Folgen gefordert und subventioniert, während Erwerbsarbeit an sich belastet wird. Diese Belastung umfasst nicht nur den rein finanziellen Aspekt, sondern in nicht unerheblicher Weise auch den mit solcher Art der Lebensführung verbundenen sozialen Stress. Dazu trägt bei, dass nur bestimmte Formen der Arbeit ausreichend honoriert werden, während andere gesellschaftlich notwendige Bereiche wie Erziehungsarbeit oder ehrenamtliches Engagement keine Rolle zu spielen scheinen.

Das alles unterstreicht die Richtigkeit des von der grünen Direktkandidatin für Greifswald vertretenen Ansatzes: „Zeitwohlstand ist ein wenig beachtetes, aber kostbares und unterbewertetes Gut in diesen Tagen“, schreibt Anne. Mit Blick auf die obigen Ausführungen möchte ich nur noch ergänzen: Die im Rahmen moderner Wanderarbeit verschwendete Zeit bedeutet auch, erhebliches gesellschaftliches Potential zu verschenken. Denn es sind gerade auch überdurchschnittlich interessierte, gebildete und intelligente Menschen, denen der Zugang zur aktiven politischen Teilhabe erschwert wird.

Ein Kommentar bei „Fernpendeln liegt im Trend“

  1. Jawoll! So isses! Aber was tun? Eines der wichtigsten Projekte ist vermutlich, das heilige Bruttoinlandsprodukt als Indikator für eine prosperierendes Land zu stürzen. Diese für die Wirtschaftsfetischsten alles entscheidende Zahl sagt null,nichts über Verteilung, Zufriedenheit, Nachhaltigkeit, Gesundheit, Angstfreiheit etc. pp. aus. Und daran sollten sich eine Politik messen lassen und das BIP zum Mond schießen 😉

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