Der Mensch kommt vor dem Programm. Das gilt für die Bürgerin/den Bürger, das gilt auch für die BuPrä-KandidatInnen. Die Süddeutsche Zeitung z.B. argumentiert dafür anschaulich in der heutigen und gestrigen Ausabe jeweils auf der dritten Seite. Die Auseinandersetzung um die öffentlichen Dinge (res publica) werden zum Glück immer auch anhand der Geschichten derer entschieden, die sich auf den Diskurs-Marktplatz begeben. Nur wer bereit ist sein Gesicht zu zeigen, seine Geschichte zu erzählen und mit seiner vita zu bürgen ist auch programmatisch satisfaktionsfähig. Wer nur die gefragten wirtschafts-, friendens-, sozialpolitischen Richtigkeiten zu Protokoll gibt, qualifiziert sich damit vielleicht zum Verbands- oder Parteigliederungssprecher – aber noch lange nicht für ein bürgerschaftliches Amt, schon gar nicht für das Amt des Bundespräsidenten.
Was an bürgerschaftlicher Begeisterung rund um die Kandidatur von Joachium Gauck entstanden ist, stellt ein Sommermärchen ganz eigner Art dar. Runter mit den alten Tapeten Ohnmacht, Angst und mieser Laune. Endlich geht es öffentlich um Widerstandgeist, Freiheitsliebe und um uns als eigensinnige/gemeinsinnige AkteurInnen in Krisenzeiten. Die Verhältnisse begannen zu tanzen mit der Nominierung Gaucks, zumindest im Netz und in der medialen Öffentlichkeit. Es ging drunter und drüber. Die falschen Politiker schalteten Seiten im Netz für den Kandidaten Gauck, KommentatorInnen der verdächtigen Springer-/Privat-/Schmuddelmedien flirteten mit der Revolution. Multi-Kulti-Studierende, die es nach Rostock verschlagen hat, spendeten einem deutschen Theologen und Großvater stehend Ovationen. Nicht nur sie hielten plötzlich wieder für möglich, dass in Düsterland auch Leidenschaft und Emotionen gefragt sein könnten – Was kann daran falsch sein? Fragen Sie die organisierte Volksfürsorglichkeit in Parteien und Verbänden!
„Das wär doch nochmal schöner, wenn uns so ein Pastor hier alles durcheinanderbringen dürfte“, sagten sich die Robin Hoods von PDL an rechtswärts. „Wir wissen allemal besser was das Volk braucht, welcher Freiheitsbegriff es nicht überfordert und wie man ihm Revolution (am besten in Mittel- oder Südamerika) dosiert verabreicht, damit keine unerwünschten Nebenwirkungen auftreten“.
Und dann begannen die linkspathetischen Nebelmaschinen („Sie lügen wie gedruckt-wir drucken wie sie lügen“) zu blasen. Um es kurz zu machen: Gauck stehe für Neoliberalismus und den hartherzigen Staat. Sein Freiheitsbegriff wisse nichts von Partizipation, Gauck verkenne, dass Freiheit ein Projekt sei u.dgl. mehr. Die formal reizvollen und inhaltsschweren Quellentexte zu Gauck (z.B. http://www.gruene.de/einzelansicht/artikel/die-freiheit-bindet-sich-an-das-gemeinwohl.html) obwohl meist kurzweilig zu rezipieren , scheinen weder Oskar Lafontaine noch Christian Semmler und leider auch nicht mein geschätzter Kollege und Mitblogger Gregor Kochhan zur Kenntnis genommen zu haben. Ein Schnipsel der Rede Gaucks, die er am 22. Juni im Deutschen Thater gehalten hat, würde ausreichen, auf Diskurshöhe zu gelangen:
„Die Freiheit, die wir bejahen, bindet sich an das Gemeinwohl. Sie akzeptiert eine Ratio des sozialen Ausgleichs und nimmt den besser Gestellten, um es den schlechter Gestellten zu geben. Dies geschieht durch das Steuersystem und die Sozialleistungen. Eine solidarische Gesellschaft steht Hilfsbedürftigen bei, wenn sie in Not sind. Sie ermächtigt die Hilfsbedürftigen aber vor allem, wieder für sich selbst zu sorgen. Für diese Art der Unterstützung passt der Begriff Fürsorge nur bedingt. Fürsorge kann entmächtigend wirken, wenn der Staat die Rolle eines gütigen Fürsten annimmt, dessen Gestus die Empfänger zu Mündeln macht und ihre Abhängigkeit fördert statt an ihren Mut und ihr Selbstvertrauen zu appellieren.
Freiheit, die sich ans Gemeinwohl bindet, schafft auch soziale und ökonomische Voraussetzungen für eine möglichst große Chancengleichheit. Menschen in unterprivilegierten Schichten und Menschen, die erst in den letzten Jahrzehnten zu uns gekommen sind, dürfen aufgrund fehlender ökonomischer und sozialer Absicherung nicht um ihre Entwicklungsmöglichkeiten gebracht werden. Selbstverwirklichung in Freiheit gelingt nur, wenn beispielsweise Kinder und Jugendliche über gleiche Bildungschancen verfügen – unabhängig von ihrem Elternhaus…“
Die Führung der Partei „Die Linke“ und ihre Kandidtaion Lukretia Jochimsen nennen Joachim Gauck einen Mann der „Vergangenheit“ und weigern sich, selbst im dritten Wahlgang für den Bürgerermächtiger zu stimmen; Sie agieren lieber im Sinne des CDU/CSU/FDP-Drehbuchs als sich in der Bundesversammlung in einem Befreiungsschlag von totalitären Anteilen der eigenen Vergangenheit zu verabschieden. Das ist nur dann konsequent, wenn „Die Linke“ weiterhin nach alter Manier auf Volksentmündigung bauen möchte. Dies aber wäre ein Trauerspiel für das Land. Denn dann rückt eine realpolitische (rot-rot-grüne) Alternative zur drohenden Durchsetzung der neoliberalen Agenda wieder auf Jahre in die Zukunft.
Hinter die revolutionäre Selbstermächtigung der Zivilgesellschaft hin zu einem robusten demokratisch verfassten Gemeinwesen kann ernsthaft niemand zurück wollen. Joachim Gaucks Verdienst ist, dass er im Jahre 2010 an die unerhörte Befreiungsgeschichte von 1989 nicht nur erinnert, sondern für sie und für dieses Gemeinwesen mit Haut und Haar und medialer Präsenz einsteht. Dieses Erbe geht nicht verloren, wenn der Kandidat von SPD und Grünen morgen in der Bundesversammlung nicht gewählt wird; es geht aber dann verloren, wenn Linke, Grüne und Sozis im Krisenstress verzagen, der gefühlten Ohnmacht auf den Leim gehen und zu den Fleischtöpfen der Volksbeglückung zurückkehren wollen.
Mir stellt sich die Frage über die Struktur des Blogs hier…
Aber nicht jetzt 🙂 Erstmal freue ich mich über die eben gelesenen Zeilen! Danke 🙂