Wahlrecht – ein Lösungsvorschlag

In einer Situation, da die Republik über kein gültiges Bundestagswahlrecht verfügt, darf es erlaubt sein, Vorschläge zu machen, wie ein solches Wahlrecht künftig aussehen könnte. Ziel sollte dabei sein, die Vorzüge des bestehenden Wahlrechts zu erhalten oder zu erweitern, gleichzeitig aber auch eine verfassungskonforme Ausgestaltung zu erreichen sowie weitere Nachteile zu verringern oder zu beseitigen. Ein Blick über den Tellerrand namens Grenze lohnt auch, denn auch andere Demokratien verfügen über Wahlsysteme. Viele davon funktionieren gut.

Zu beseitigen gilt es das negative Stimmgewicht, zu vermeiden sind Überhangmandate.
Beizubehalten und zu verbessern sind Elemente der Regionalisierung, die neben der Berücksichtigung der föderalen Ordnung im Wahlsystem auch eine gleichmäßige Vertretung der Regionen zu erreichen sucht. Ebenfalls weiter gewünscht ist die Möglichkeit der Personalisierung.
Die föderale Ordnung wird durch die Mandatsvergabe in Landeslisten gewährleistet. Für Regionalisierung und Personalisierung stehen bislang die in Einerwahlkreisen nach relativer Mehrheit vergebenen Direktmandate. Diese garantieren tatsächlich eine regionale Mindestvertretung, welche allerdings oft insoweit unausgewogen ist, dass sie nur durch Vertreter_innen einer Partei hergestellt wird. Ist dies eine, die einer/einem als Wähler_in nicht nahesteht, kann von einer ausgewogenen Vertretung der Region nicht die Rede sein. Als Element der Personalisierung sind die Einerwahlkreise wenig überzeugend. Überwiegend geht es bei ihnen nicht um die konkreten Personen, sondern um ihre Parteizugehörigkeiten. Außerdem kann jede Partei nur eine_n Menschen im Wahlkreis aufstellen.
Gleichzeitig ist die Vergabe von Direktmandaten in Einerwahlkreisen wesentliche Ursache für das Auftreten von Überhangmandaten.
Insgesamt spricht vieles dafür, ein künftiges Wahlsystem zum Deutschen Bundestag zu entwickeln, das ohne Einerwahlkreise auskommt.

Die Lösung könnte so aussehen:
Von den 598 zu vergebenden Bundestagsmandaten werden in einem ersten Schritt drei Viertel, also 449, in ca. 110–120 Mehrmandatswahlkreisen zugeteilt. In jedem dieser Wahlkreise werden zwischen drei und fünf Sitze vergeben. Die Parteien stellen in diesen Wahlkreisen jeweils mehrere Kandidat_innen auf. Die Wähler_innen vergeben mehrere Stimmen direkt an bestimmte Bewerber_innen, wobei wie bei vielen Kommunalwahlsystemen die Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens gegeben ist.
In einem zweiten Schritt werden alle Stimmen, die für Kandidat_innen einer Partei abgegeben worden sind, zusammengezählt, bei abweichender Stimmenzahl je Wahlkreis wäre zuvor noch eine Normierung notwendig. Daraus ergibt sich, eventuell unter Berücksichtigung einer verfassungskonformen Sperrklausel, die Verteilung aller 598 Sitze zwischen den Parteien. Diese werden wie gehabt auf 16 Bundesländer unterverteilt. In den Wahlkreisen gewonnene Sitze werden angerechnet, der Rest wird an Bewerber_innen aus starren Landeslisten zugeteilt.

Mit dieser Variante ist Überhang in einzelnen Bundesländern zwar weiter möglich, externer Übergang bezogen auf das gesamte Wahlgebiet aber praktisch ausgeschlossen, von pathologischen Stimmverteilungen mal abgesehen. Interner Überhang kann bei Divisorverfahren problemlos intern kompensiert werden. Am Ende steht somit immer eine Wahrung des Verhältnisses. Die geringste Gefahr internen Überhangs gewährleistet eine Anwendung der skandinavischen Methode für die Sitzzuteilung in den Mehrmandatswahlkreisen.
Dieses Grundmodell kann in verschiedener Weise modifiziert werden, so kann über die genaue Größe der Wahlkreise sicher diskutiert werden, auch das Verhältnis zwischen Wahlkreissitzen und Listensitzen. Das Grundmodell sieht ferner kein Stimmensplitting vor. Eine Listenpersonalisierung wäre zusätzlich denkbar, allerdings spricht einiges auch dafür, dass die Parteien wenigstens für einen Teil ihrer Mandatsträger_innen, hier ein Viertel, das Privileg der Vorauswahl behalten dürfen. Regionalisierung und Personalisierung werden in diesem Modell gegenüber dem bisherigen System verbessert. Die Personenstimmen auf Wahlkreisebene erlauben dem Gesetzgeber zudem als besonderen Leckerbissen, von den Parteien die Aufstellung quotierter Kandidat_innenlisten verbindlich zu verlangen.

Das Modell ist keines, das ich völlig neu erfunden habe. Bei der Wahl zum Schwedischen Reichstag wird ein ziemlich ähnliches Verfahren schon seit Jahren erfolgreich praktiziert.

Da der Anlass nun einmal akut – es gibt kein gültiges Bundestagswahlrecht – ist, erlaube ich mir, mal eine ernsthafte Sachdiskussion hierzu zu wünschen. Das heißt aber: Vorschläge mögen bitte konkret und positiv (Nein sagen kann jede_r) sein, außerdem verfassungskonform und verständlich.
Ich freue mich auf weitere Ideen.

12 Kommentare bei „Wahlrecht – ein Lösungsvorschlag“

  1. Wozu ein neues Bundeswahlrecht, wenn man ohnehin nur noch die Wahl zwischen Pest oder Cholera hat?

  2. Die Idee ist, um es mal mit den Wort Spocks zu sagen, faszinierend.

    Allerdings sehe ich in einem Bundesland wie Mecklenburg-Vorpommern die Regionalisierung zum Scheitern verurteilt, vorausgestetzt die Anzahl der Sitze im Bundestag wird nicht deutlich erhöht. Bei einer Mandatszahl von 3-5 pro Wahlkreis würde sich womöglich nur noch 2 vielleicht 3 Wahlkreise in MV befinden. Das hätte nahezu die selbe Regionalisierung, als würde in MV nur noch nach Liste gewählt (oder um es dem Vorschlag entsprechend auszudrücken, ein 6-Mandate-Wahlkreis).

    Die Idee ist nicht schlecht, und funktioniert bestimmt auch sehr gut bei einer halbwegs homogenen Bevölkerungsdichte im Wahlgebiet, aber für ein Bundestagswahlrecht die Regionalisierung mit dieser Löschung verbessern zu wollen/können, sehe ich nicht, zumindest nicht in MV.

  3. Die mathematischen Grundlagen verschiedener Wahlverfahren und ihre Vor- und Nachteile sind ja eigentlich ausreichend bekannt. Genügend funktionierende Beispiele in anderen Ländern gibt es auch, und alle Parteien haben ihre Spezialisten, die gut im Stoff stehen. Man könnte sich also vom rein technischen Aspekt her eigentlich bis Freitag nächster Woche auf ein neues Wahlverfahren einigen.

    Es spielen aber offenbar weitere Aspekte eine Rolle bei der Entscheidung. Einerseits will die schwarz-gelbe Koalition natürlich an Aspekten festhalten, von denen sie bisher profitiert hat (Überhangmandate). Andererseits gibt es auch gute Gründe, das Wahlrecht nicht komplett auf links zu drehen. Schließlich haben sich die Bürger an das Verfahren mit Erst- und Zweitstimme gewöhnt.

    Deshalb scheint mir eine möglichst einfache und minimale Lösung am realistischsten und am praktikabelsten, welche die Defizite des alten Wahlrechts behebt, andererseits aber dem alten Wahlrecht „kulturell“ ähnelt. Das schwedische Verfahren ist zwar elegant, weicht vom bisherigen Wahlverfahren aber relativ stark ab.

    Wenn sich allerdings wider Erwarten doch die Möglichkeit ergeben sollte, eine gründlichere Wahlrechtsreform durchzuführen, fände ich den folgenden Vorschlag auf wahlrecht.de (Punkt 6) noch interessant: Man schafft die Erststimme ab und wählt mit einer einzigen Stimme sowohl Wahlkreiskandidaten als auch die Landesliste einer Partei. Dadurch gäbe es schon verfahrensbedingt keine Überhangmandate und kein negatives Stimmgewicht, die regionale Repräsentation wäre gegeben. Und es ist einfach: Jeder nur ein Kreuz!

  4. @ Robert Schuldt: Es ist natürlich richtig, dass die Mehrmandatswahlkreise größer wären als die Einerwahlkreise. In dünnbesiedelten Ländern wie MV ist das zu vertretende Gebiet dadurch ziemlich groß. Dafür erhält jeder dieser Wahlkreise mindestens drei Mandate. Derzeit ist der alte BTWK 16 nur durch einen Abgeordneten (Lietz) vertreten, von dem ich mich nicht repräsentiert fühle, weil mir die Politik, für die er stimmt, nicht gefällt. Für den BTWK 17 (Poland) gilt dasselbe)
    In meinem Modell hätte MV vermutlich drei 3er-Wahlkreise. Eine mögliche Einteilung wäre:
    MV1: Schwerin, Ludwigslust-Parchim, Nordwestmecklenburg und von Rostock-Land Bützow-Land, Satow, Neubukow, Neubukow-Salzhaff, Kühlungsborn, Kröpelin, Bad Doberan, Bad Doberan-Land.
    MV2: Rostock-Stadt, Rest von Rostock-Land, Vorpommern-Rügen.
    MV3: Vorpommernm-Greifswald, Mecklenburgische Seenplatte.
    Bei der aktuellen politischen Stimmung wahrscheinliches Resultat: In den Wahlkreisen jeweils 1 CDU, 1 SPD, 1 Linke. Dazu drei Landeslistensitze für Grüne, Piraten und CDU.
    Im Wahlkreis MV3 hätten wir so mindestens eine_n Abgeordnete_n mehr und und außerdem zwei, die mir und vielen anderen vermutlich wenigstens politisch näher stehen als die beiden derzeitigen Abgeordneten.

  5. @ Kai Bösefeldt: Abschaffung der Erststimme wäre eine Verbesserung, aber nicht hinreichend zur Vermeidung des Überhangs. Das ist ein typischer Denkfehler. Überhangmandate enstehen durch zu wenige Stimmen. Auch bei der Abschaffung des Stimmensplittings ist es immer noch möglich, dass eine Partei alle Whalkreise in einem Budnesland mit weniger als 40% der Stimmen gewinnt. Und das wäre bei einem ansonsten unveränderten Modell gleichbedeutend mit Überhang.
    Eine Einigung, nur für die Wahl 2013 ein verfassungskonformes Übergangswahlrecht zu beschließen, fänd ich ja okay. Geeignet sind dafür vor allem die Entwürfe Grüne 2009 und Linke 2011. Das sollte aber mit der Absicht verbunden werden, in der darauffolgenden Legislatur eine grundlegende Reform anzugehen.
    Das Argument, an ein System habe man sich geöhnt, lasse ich nicht gelten, gerade dann nicht, wenn viele das Gewohnte gar nicht verstehen. Auch in Hamburg und Bremen hat der Systemwechsel ja funktioniert. Mein Vorschlag ist dabei noch deutlich einfacher und klarer als das Wahlsystem bei der Hamburger Bürgerschaftswahl.

  6. Die Abschaffung der Erststimme müsste von ja weiteren Neuregelungen begleitet werden. Ob dabei Überhangmandate entstehen käme sicher darauf an, wie man das konkret ausgestaltet. Aber da hast du sicher einen besseren Überblick als ich.

    Ich fürchte ohnehin, dass wir eine Mininallösung bekommen werden, und das nicht nur für die nächste Wahl, sondern bis auf Weiteres. Wir werden uns aber damit trösten können, dass es in jedem Falle besser sein wird als das, was wir bisher hatten. Der Spatz in der Hand ist halt auch nicht zu verachten.

  7. Anm.: Kommentar gelöscht, weil er mit dem Thema des Artikels nichts zu tun hatte. Im letzten Absatz habe ich mir derartoge Moderation ausdrücklich vorbehalten. K. K.

  8. @K.K.

    akzeptiert und verstanden, stimmt, es ist kein Lösungsvorschlag, was der Feynsinnige, der verlinkt wurde, schrieb.

    Die Ausdrucksweise mal geschenkt, aber die Aussage 2005 von A.M., die leider stimmt, sollte hellhörig machen, vor allem die Opposition, wenn sie dann eine ist oder sein will.

    Auch die Umfragewerte für A.M. sind alarmierend, wie bestellt zu dem Gerichtsurteil aus K.

    Es wäre doch viel einfacher zuzugeben, dass sich die Parteien schon lange von der Demokratie verabschiedet haben, als solche verlinkten Aussagen der Kanzlerin zu verstecken.

  9. Stefan Fassbinder sagt: Antworten

    Stimmensplitting will ich nicht missen.

    Besteht bei Mehrmandatswahlkreisen nicht die Gefahr, dass die KandidatInnen einer Partei/Liste zusätzlich Wahlkampf gegen MitbewerberInnen aus der eigenen Partei machen müssen. Und wie setzt der für den Wahlkreis zuständige Kreisverband seine Kräfte sinnvoll ein?

  10. Hallo Stefan, ein System mit mehreren Stimmen je Wähler_in ermöglicht ja auch das Panachieren. Das Splittimg ermöglicht aktuell in Überhangländern doppeltes Stimmgewicht einzelner Wähler_innen. Das war auch bekannt und auch deswegen wurde es 2009 vor allem in Baden-Württemberg so massiv ausgenutzt.
    Den parteiinternen Wettbewerb haben wir ja heute schon bei Wahlen auf kommunaler Ebene. Meine bisherigen Erfahrungen sagen mir, dass das in Wahlkämpfen kein Problem bedeuten muss. Da können Wähler_innen auch sehen, wie die einzelnen Parteien beispielsweise den Solidargedanken interpretieren, gewinnen also eine wesentliche Information hinzu.
    Ich bin ja sogar der Auffassung, dass der Verhältnisausgleich weiterhin über starre Listen erfolgen soll, damit die Parteien wenigstens für diesen Teil der Bewerber_innen sichere Plätze reservieren können. Die Erfahrungen mit der Listenstimme in Hamburg zeigen auch, dass die wenig hilfreich ist. Da außerdem ein Großteil der Wähler_innen erfahrungsgemäß auch die Vorauswahl der Parteien bestätigen möchte, spielt diese durchaus weiterhin eine bedeutende Rolle.

  11. Hier ein ähnlicher Vorschlag, der ganz ohne Überhangmandate auskommt:

    Der Bundestag soll wie bisher aus Wahlkreisvertretern und Vertretern von Parteilisten zusammengesetzt werden, die aber zwei getrennte Kontingente, ein Delegiertenkontingent und ein Parteienkontingent, bilden.
    Jeder Wahlkreis soll nicht nur einen, sondern mehrere Vertreter entsenden können, z. B. jeweils die drei mit den meisten Stimmen.
    Durch Wahl der Kandidaten sollen gleichzeitig deren Parteien Punkte sammeln, auf deren Basis dann die Sitze des Parteienkontingents vergeben werden. Die Partei des Kandidaten mit den meisten Stimmen erhält 3 Punkte, die des Kandidaten mit den zweitmeisten Stimmen 2 Punkte, usw.
    Die Parteien erhalten dann proportional zu den von ihren Kandidaten gesammelten Punkten Anteile am Parteienkontingent.

    Vorteile:
    Überhangmandate entstehen nicht, die Anzahl der Mandatsträger ist definiert und stets gleich.
    Indem nicht nur ein Gewinner in den Bundestag einzieht, erhalten auch Persönlichkeiten eine Chance, die das „Pech“ haben, einer kleineren Partei anzugehören.
    Man kommt ohne Teilung in Erst- und Zweitstimme aus.

    Problem:
    Die Zahl bzw. Größe der Wahlkreise muss angepasst werden, wenn die Größe des Parlaments bleiben soll, wie sie ist.

    Varianten und Stellschrauben:
    Die Zahl der Vertreter eines Wahlkreises kann man variieren.
    Anstatt die Kandidaten Punkte gemäß ihrem Rang sammeln zu lassen, kann man auch direkt die Prozentzahlen der auf sie entfallenden Stimmen verwenden.
    Anstatt nur einer Stimme könnte der Wähler mehrere haben, die er frei auf die Kandidaten verteilen kann (kumulieren und panaschieren).

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