Die Grün-Orange-Frage

Anders als die konservative Konkurrenz in Schwarz und auch Rot haben sich Grüne bisher vernünftigerweise nicht dazu hinreißen lassen, der neuen politischen Partei aus dem Netz mit Ignoranz und Unverständnis zu begegnen. Neben der Zusammenarbeit im Europaparlament – der schwedische Pirat Christian Engström hat sich der Fraktion Grüne-EFA angeschlossen – gibt es eine Reihe weiterer konstruktiver Beiträge, von denen ich hier stellvertretend auf einen Blogbeitrag von Till Westermayer (Sprecher der grünen BAG Wissenschaft, Hochschule und Technologie) verweisen möchte.

Inzwischen können nach den Landtagswahlen in Sachsen und den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen die Wahlaussichten der Piratenpartei besser eingeschätzt werden. Dabei gibt insbesondere das sächsische Ergebnis von 1,9% bei niedriger Wahlbeteiligung und einem Bestwert von 4,8% auf Wahlkreisebene Anlass zur Annahme, dass es bei der Bundestagswahl 2009 mit der Fünfprozenthürde nichts wird. Auch die Ergebnisse aus Aachen und Münster dürfen als wenig repräsentativ gelten, da es sich hier eben um ausgesprochene Hochburgen der Piratenpartei handelt.

Erfreulicherweise beweisen zumindest die Funktionsträger der Piraten – anders als bei den meisten übrigen Kleinparteien – in dieser Frage auch den gebotenen Realitätssinn und erklären, auch ein Achtungserfolg, also ein Ergebnis, das zumindest eine Erwähnung in der Wahlberichterstattung zur Folge hätte, könne perspektivisch nützlich sein, nicht nur durch die dann fällige Wahlkampfkostenerstattung. Wem es also nichts ausmacht, dass seine (Zweit-)Stimme zumindest für die Berechnung der Mandatsverteilung im neuen Bundestag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht berücksichtigt wird, aber ansonsten klar mit den Piraten sympathisiert, hat weiterhin Grund, diese auch zu wählen.

Da es nun aber auch aus Sicht eines Piratenanhängers einen Unterschied machen kann, ob nach dem 27.09. eine schwarzgelbe Koalition regiert, oder doch eine andere Konstellation, möglicherweise auch mit grüner Beteiligung, ist die Wahlentscheidung komplizierter. Relativ unproblematisch ist noch die Erststimme. Die kann man in den überhangrelevanten Bundesländern immer taktisch abgeben, in den übrigen (also Niedersachsen, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Berlin) wählt man einfach den jeweiligen Lieblingskandidaten.

Wie groß und – möglicherweise wahlentscheidend – die Summe derer ist, die noch zwischen Piraten und Grünen unentschieden sind, kann nur spekuliert werden. In Sachsen gab es eine hohe Übereinstimmung zwischen grünen Hochburgen und denen der Piraten, außerdem scheint ein Großteil der Piratenwähler mit der Wahlkreisstimme Grün gewählt zu haben. In Aachen entwickelte sich das Grünen-Ergebnis in den Wahlbezirken, wo die Piraten wählbar waren, deutlich negativer als in den übrigen. Allerdings ist gerade durch diese Situation eine Art informelle Absprache wahrscheinlich, nämlich, dass einige Grün-Sympathisanten in diesen Bezirken orange gewählt haben, um sich umgekehrt die Gunst der Piratensympathisanten für Grün in den anderen Gebieten zu sichern. In Münster war das grüne Ergebnis bescheiden, doch fallen mir speziell da auch mögliche hausgemachte Gründe ein. Zudem war der grüne Zuwachs in Thüringen (keine Kandidatur der Piraten) nur um 0,4 Prozentpunkte höher als der in Sachsen, wofür dann auch noch andere Gründe, nämlich das stärkere Funktionsargument und die 2004 negativ wirkende „Schwellenangst“, in Erwägung gezogen werden können. Langer Rede kurzer Sinn: Auch Zahlenjongleure stoßen zuweilen an Grenzen.

Was ich mir von Grün wünsche: Angemessene und sichtbare Berücksichtigung der legitimen Anliegen der Piratenpartei in grüner Politik und vielleicht auch mehr ausgewiesene Netzpolitiker in den Parlamenten.

Was ich mir von Orange wünsche: Schließung einiger Lücken im Programm, damit man die gesamten Politikansätze vergleichen kann, und insbesondere die Schließung möglicher Einfallstore für Rechtsaußen. Zumindest von den im Wahlomat angegebenen Positionen konnten mir einige nicht gefallen, vor allem die offensichtliche Gleichgültigkeit gegenüber Umweltpolitik.

Was ich mir von beiden wünsche: Einsatz für ein Wahlrecht, das einige der oben beschriebenen Dilemmata abmildert, etwa durch Alternativstimme oder Panaschieren, und weiterhin reichhaltige und konstruktive Kommunikation.

Was ich ausgeklammert habe: Den niedrigen Frauenanteil bei den Piraten, weil ich erstens nicht in der Position bin, hier Kritik zu üben, und Grüne in manchen Gegenden da ja auch Probleme haben, jedenfalls, wenn man sich die Direktkandidaturen anschaut.

Update:

Lars Brücher hat die Spitzenposition der Piratenpartei bei vielen Wahlomat-Anwendern genauer untersucht und kommt zu einem ernüchternden Fazit.

8 Kommentare bei „Die Grün-Orange-Frage“

  1. Danke für diesen unaufgeregten Kommentar. Ich könnte jedoch zumindest nicht ohne Bauchschmerzen die Grünen wählen – dank des absolut peinlichen Kommentars von Herrn Matthias Güldner (und vor allem der meiner Meinung nach unzureichenden Aufarbeitung seitens seiner Fraktion und der Bundes-Grünen), danke der 15 Enthaltungen im Bundestag und dank der ständig im Hintergrund geisternden Jamaika-Diskussion, die eigentlich keine sein sollte.

    Wählen gehen steht nicht zur Debatte – meine Stimme für Grün jedoch erstmals schon.

  2. Zumindest von den im Wahlomat angegebenen Positionen konnten mir einige nicht gefallen, vor allem die offensichtliche Gleichgültigkeit gegenüber Umweltpolitik.

    Nur weil die Piraten nicht „100% Umweltschutz oder stirb“ in ihrem Wahlprogramm haben heißt das nicht, dass der Umweltschutz gleichgültig behandelt wird. Wer in sein Wahlprogramm sinnfreie Forderungen wie Tempo 120 auf BAB, 80 auf Bundesstraßen und 30 Innerorts fordert braucht sich nicht wundern wenn er von der Masse der Bevölkerung müde belächelt wird.

    1. Hallo „Keine Panik“!

      Na dann seht mal zu, dass ihr das Thema Umweltschutz nicht wie die anderen nicht-grünen Parteien als Floskel-Thema behandelt! 😉

      Zum Tempo-Limit: Das gewichtigste Argument für das Tempo-Limit sind die Verkehrstoten und die Senkung des Adrenalinspiegels aller Verkehrsteilnehmer. Die Umwelt würde davon mittelfristig vor allem dadurch profitieren, dass die Auto-Entwickler nicht mehr um die schnellsten und damit sprit-durstigsten Modelle konkurrieren können, sondern eher auf Effizienz getrimmt werden.

  3. Schöner Artikel!

    Freue mich auf grün-orangende Koalitionen!

    Sebastian, mitglied der Piraten Greifswald

  4. Netter Artikel, vor allem der Punkt Umweltpolitik stieß bei mir auf Einverständnis. Es kann nicht sein, das bei der letzten AntiAtomDemo ganze 2 (zwei!) Piratenflaggen auszumachen waren. Umweltschutz ist für viele Wähler ein Totschlagargument. Wer zu diesem Thema keine Stellung vertritt, egal in welche Richtung, ist nicht nur in meinen Augen schlicht nicht wählbar. Das sage ich als aktiver Pirat.

  5. Güldner hat, glaube ich, schon ordentlich Prügel aus den eigenen Reihen bezogen, kandidiert zudem nicht für den Bundestag und wird halt erst bei der nächsten Listenaufstellung in Bremen die wirkliche Konsequenz tragen müssen. Manchmal ist Politik eben nicht schneller.
    Zu den Enthaltungen ergeht von mir nochmal der klare Hinweis, dass eine Enthaltung eben kein „Ja“ bedeutet. Persönlich halte ich dieses Resultat des im übrigen von den Enthaltern ausführlich beschriebenen Abwägungskonfliktes auch für falsch, finde es aber immerhin ehrlicher als die seitens zahlreicher FDP- und Linkspartei-Abgeordneten gewählte Variante, der Abstimmung fernzubleiben.
    Zum Thema Tempolimit: War ja klar, dass das wieder kommt. Tja nun, in Sachen Klimaschutz macht eben auch Kleinvieh Mist, und wer bürgerliche Freiheit wirklich an der Lizenz zum Schnellfahren festmachen will, ist irgendwie auch arm dran. Und wenn ich 300 fahren will, kann ich mich auch in einen TGV setzen.

  6. @Keine Panik
    Sinnfrei sind eher solche Kommentare: „Wer in sein Wahlprogramm sinnfreie Forderungen wie Tempo 120 auf BAB, 80 auf Bundesstraßen und 30 Innerorts fordert braucht sich nicht wundern wenn er von der Masse der Bevölkerung müde belächelt wird.“

    Durch ein Tempolimit können 2,5 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden. Das sind mehr als in zwei Jahren durch das Programm zur energetischen Gebäudesanierung eingespart werden können. Ein Tempolimit ist faktisch kostenlos zu haben. Viele anderen Maßnahmen kosten ziemlich viel Geld. Es gibt noch einen weiteren Grund für ein Tempolimit: Sprit sparen! 130 km/h anstatt 150 km/h auf der Autobahn können durchschnittlich zwei Liter Spritersparnis auf 100 Kilometern bedeuten, bei 100 km/h sogar vier Liter.
    Einen weiteren Grund offenbart die Unfallstatistik: 70 Prozent aller tödlichen Unfälle fanden 2005 auf deutschen Autobahnabschnitten ohne Geschwindigkeitsbeschränkung statt.

    Also, wenn alle Piraten solche Ökomuffel sind, dann könnte ich mir keine sinnvolle Zusammenarbeit vorstellen.

    1. Die meisten Todesopfer bei Verkehrsunfällen gibt es nicht auf Autobahnen, erst recht nicht auf Strecken ohne Tempolimit (die im übrigen so gut wie gar nicht zur Unfallstatistik „beitragen!) sondern schon seit vielen Jahren auf Landstraßen.

      Zwischen 130 km/h und 150 km/h liegen bei modernen PKW niemals 2 Liter Verbrauchsunterschied, zwischen 100 und 150 km/h sind es um die zwei Liter.

      Beobachtet man das Fahrverhalten der Verkehrsteilnehmer in Deutschland, stellt man fest, dass nur sehr wenige mit deutlich mehr als 140 km/h unterwegs sind. Im tempobegrenzten Frankreich beispielsweise sind es im übrigen kaum weniger.

      Soviel zu den Märchen um das Tempolimit. Dagegen hatte die von den Grünen so sehr verschmähte Umweltprämie (auch Abwrackprämie genannt) übrigens großen Erfolg. Die verschrotteten Fahrzeuge waren durchschnittlich ca. 14,5 Jahre alt. Die neu angeschafften PKW waren im Schnitt kleiner und verbrauchen ca. 20 % weniger Sprit, bei deutlich reduziertem Schadstoffausstoß.

      Zum Artikel selbst: Solche wahltaktischen Spielereien sind für mich haarscharf an der Grenze dessen, was Wahlrecht überhaupt aushält. Daher plädiere ich für ein ausnahmsloses Mehrheitswahlrecht.

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