Mit auffallend geringem Echo erklärte das Bundesverfassungsgericht heute die Fünfprozenthürde bei der Wahl der in Deutschland zu wählenden Abgeordneten des Europäischen Parlaments für nichtig. Sperrklauselentscheidungen haben dabei hauptsächlich zu klären, ob eine Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit, welche unstrittig als gegeben anerkannt wird, durch andere Erwägungen gerechtfertigt wird.
Worum es dabei letztlich geht, ist die „Arbeitsfähigkeit des Parlaments“. Um diese im Falle des EP zu gewährleisten, ist die Sperrklausel nach Auffassung der Verfassungsrichter_innen nicht notwendig und somit auch nicht zulässig. Die Auffassung stützt sich auf die langjährige Praxis im EP, das es stets geschafft hat, den größten Teil der Abgeordneten aus einer Vielzahl unterschiedlicher Gruppierungen in einer übersichtlichen Anzahl von Fraktionen – derzeit sieben – zusammenzuführen. Auch klar wurde, wenn auch nur indirekt, dass eine rein nationale Sichtweise auf die Wahl nicht weiterhilft. Eine Sperrklausel, die effektiv eine Zersplitterung verhindert, müsste schließlich EU-weit angewandt werden.
Die Urteilsbegründung überzeugt leider nicht in jeder Frage. Die Rolle des EP im Gesetzgebungsprozess wird nicht gut dargestellt. Die Möglichkeit, dass das EP einen Beschluss des Europäischen Rates „passieren lässt“, indem es ihm nicht widerspricht, bedeutet nicht, dass es auf die Möglichkeiten, parlamentarische Mehrheiten zu finden, nicht so recht ankäme. En passant liefert dieser Abschnitt allerdings den europaweit organisierten Parteien und Parteifamilien ein schönes Argument gegen rein national agierende Kleinparteien. Denn eine Zersplitterung begünstigt, denkt man es zu Ende, den Rat gegenüber dem Parlament. Wer das Parlament stärken möchte, sollte daher auf europäisch denkende Gruppierungen setzen.
In eine ähnliche Richtung geht der GRÜNE Bundesvorsitzende Cem Özdemir, der eine „Europäisierung des Wahlrechts“ vorschlägt: „Wirklich europäische Wahlen würden dem Auftrag als Volksvertretung gerecht werden und europäische Mehrheitsverhältnisse widerspiegeln. Dazu bedarf es auch der Einführung von transnationalen Listen für die Wahlen zum Europäischen Parlament. Wir Grüne setzen uns schon lange für diesen europäischen Ansatz in der Parteipolitik ein.“ Das hätte zudem den Vorteil, dass man vorher wüsste, wer sich zusammen mit der gewählten Partei später in einer EP-Fraktion zusammenfindet. Wer dann CDU wählt, wählt zugleich auch die ungarische Fidesz und Berlusconis Getreue.
„Aber die Extremisten!“ beschwerten sich die Kritiker_innen des Urteils sogleich und übersahen dabei nicht nur die problematische Verwendung des Extremismusbegriffs, der eben auch die „extreme Mitte“ oder die „extrem Libertären“ einschließt. Es ist kaum nachzuvollziehen, weswegen zum Beispiel unsere luxemburgische Schwesterpartei Déi Gréng mit weniger als 32.000 Wähler_innen (landesweit immerhin 16%) im EP vertreten ist, aber in Deutschland gleich 19 Listen mit mehr als 32.000 Stimmen an der Sperrklausel scheitern. Die Sperrklausel ist in absoluten Stimmen gerechnet höher als die Stimmenzahl mancher unangefochtenen Regierungspartei in anderen EU-Staaten.
Das Bundesverfassungsgericht betonte ebenfalls, „dass bei Eingriffen in die Gleichheit des Wahlrechts der Gesetzgeber nur einen engen Spielraum habe“, worauf unter anderem auch Volker Beck für die GRÜNE Bundestagsfraktion hinweist. Diese seit geraumer Zeit bei Wahlrechtsentscheidungen aus Karlsruhe zu beobachtende Grundlinie teilten allerdings nicht alle Richter_innen. Es war eine 5:3-Entscheidung, der auch ein abweichendes Votum der Richter Mellinghoff und Di Fabio angefügt ist. Hat die Urteilsbegründung der Richter_innenmehrheit schon ihre Schwächen, so wird das durch das Sondervotum relativiert, das sich teilweise im tiefsten Keller juristischer Argumentation bewegt. Di Fabio und Mellinghoff möchten dem Gesetzgeber allen erdenklichen Spielraum zugestehen. Wie man zu Grenzen kommen kann, beschreiben sie nicht. Gerade in der Wahlrechtsgesetzgebung ist das höchst problematisch, wie der dem Streben nach Machterhalt geschuldete Kampf der Union um die Überhangmandate beim Bundestagswahlrecht zeigt. Garniert wird jenes Dokument gewisser Wurstigkeit durch eine offensichtlich auf die Piratenpartei gemünzte abwertende Bemerkung über verhältnismäßig junge Parteien. Solche Werturteile haben in Gerichtsentscheidungen aber nichts zu suchen. Somit ist zu begrüßen, dass daraus lediglich ein Minderheitenvotum wurde.
Es gibt aus meiner Sicht durchaus zulässige Varianten, es Kleinparteien nicht zu leicht zu machen. Eine Möglichkeit liegt in höheren Anforderungen bei der Wahlzulassung – die derzeit geforderte Unterschriftenzahl ist eine ziemlich lächerliche Hürde. Eine weitere Variante liegt in einer stärkeren Personalisierung, wodurch „Phantomparteien“ absehbar vor Probleme gestellt würden. Möglicherweise kommt auch eine Erhöhung der faktischen Sperrwirkung durch die Einrichtung von geschlossenen Mehrmandatswahlkreisen in Frage.
Schön wäre jedenfalls mal eine richtige Diskussion darüber.