Auszug:
„Nun, fangen wir mit der Differenz der beiden Begriffe an, mit dem suggestiven Vorsprung der „Chancengerechtigkeit“ gegenüber der bloßen „Chancengleichheit“. Viele von uns haben es vermutlich schon häufiger erlebt: der Begriff der „Chancengleichheit“ stößt oft bereits beim ersten Äußern auf spontanen Widerspruch. „Menschen sind nicht gleich!“, heißt es da etwa oder „Gleichmacherei!“. Natürlich ist das Unsinn und ein Mißverständnis. Der Begriff der „Gleichheit“, der in dieser Wortverbindung Anstoß erregt, stammt aus der Französischen Revolution und meinte zu dieser Zeit wie späterhin keinesfalls die klon-identische Gleichheit der Menschen, meinte nicht idiotische „Egalisiererei“ und damit Verneinung der Menschen in ihrer jeweiligen Besonderheit. Sie meinte nichts anderes als die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz! Aber leider: menschliches Reagieren funktioniert nicht immer so rational. Und auf diese Emotionalität setzen eben auch die Propagandisten der neoliberalen Ideologie. Wo sich’s machen läßt, packt man in die Begriffe noch irgendwelche Psycho-Effekte hinein. Und in dieser Hinsicht ist die „Gerechtigkeit“ der „Gleichheit“ weit überlegen. „Gleichheit“, das ist nur objektive Feststellung: zwei Menschen sind gleich groß, haben das gleiche Gewicht, laufen beim 100-Meter-Sprint mit gleichem Tempo ins Ziel. Aber „Gerechtigkeit“? Da taucht plötzlich assoziativ die personale Zuwendung auf, der gütige Richter zum Beispiel. „Gerechtigkeit“, das ist sozusagen „Gleichheit“ mit einem ethischen Heiligenschein. Aber: dieser suggestive, dieser gefühlsevozierende Vorsprung der „Gerechtigkeit“ gegenüber der „Gleichheit“ beziehungsweise der „Chancengerechtigkeit“ gegenüber der „Chancengleichheit“ ist zugleich auch der kritische, der höchst fragwürdige Punkt! Denn unvermeidbar mengt sich damit auch Moral, mengt sich Ethik, mengt sich ein Urteilen, womöglich sogar Juristerei ins Spiel…“
Der ganze Text ist als Gastbeitrag von Holdger Platta beim Spiegelfechter zu finden: Der heimtückische Begriff „Chancengerechtigkeit“, Analyse eines neoliberalen Propagandabegriffs