Spiegel Online adelt meinen Änderungsantrag BTW-01/11 zum grünen Bundestagswahlprogramm seit gestern abend bekanntlich zusammen mit neun anderen in einem Artikel, der die angeblich zehn „kuriosesten“ Anträge zum Wahlprogramm kommentiert.
Doch stimmt die Auswahl? Sind die genannten Anträge wirklich kurios?
Ich habe da meine Zweifel.
Zum einen fehlen da einige Anträge, die dieses Beschreibung durchaus zu erfüllen vermögen. Aber wie findet ein Redakteur diese in der schnelllebigen Zeit? Anträge, die wie beispielsweise BTW-MO-01-149 eine fixe Idee wortreich im Programm zu plazieren suchen, erfordern Sitzfleisch, allein um sie erstmal zu lesen. Also sucht der Redakteur lieber kurze Anträge oder auffällige Schlagworte.
Meine Anmerkungen zu den von Spiegel Online prämierten Anträgen im Einzelnen:
Platz 10: Index und Inhaltsverzeichnis (Osnabrück-Stadt, BTW-01/07): Ist an sich sowieso üblich und wurde auf einigen Programmforen auch angemahnt. Da es zuvor nicht ausdrücklich angekündigt wurde, wollten die Osnabrücker_innen eben auf Nummer Sicher gehen. Kein Grund zur Aufregung.
Platz 9: Zivilen Ungehorsam nicht ausdrücklich hervorheben (Jürgen Filius, BTW-BÜ-01-109): Das ist eine ganz normale inhaltliche Kontroverse, wie sie in diskutierfreudigen Parteien mal vorkommt. Ich stimme mit den Antragsteller_innen (überwiegend Abgeordnete und Mitarbeiter_innen der Landtagsfraktion Baden-Württemberg) hier nicht überein, aber deswegen ist an dem Antrag noch lange nichts kurios.
Platz 8: Verkleinerung der Bundeswehr auf Null (Grüne Jugend, BTW-H-01-025): Der Antrag schlägt nur eine Erweiterung des Textes zu. Dass die Bundeswehr als Kostenfaktor im Haushaltskapitel kritisch betrachtet wird, ist unter Grünen im Übrigen unstrittig. Und was ist bitte gegen eine pazifistische Grundeinstellung einzuwenden?
Platz 7: Keine Pflanze ist illegal (Sebastian Brux, BTW-S-01-255-1): Die hier zitierte schwungvolle Begründung für die Legalisierung des Eigenanbaus wurde in den letzten Wochen mehrfach ausdrücklich gelobt. Für den Antrag selbst schlägt die Antragskommission eine Übernahme vor. Das ist eben grüne Drogenpolitik jenseits gescheiterter Ideologien.
Platz 6: Erdbeeren statt Himbeeren (Turgut Altug, BTW-U-01-017): Die Antragsteller_innen schlagen hier lediglich eine sinnvolle sprachliche Verbesserung vor. Das geflügelte Wort von den „Erdbeeren im Winter“ ist inzwischen mit einer Redewendung vergleichbar. Deswegen liegt es nahe, hier beim gewohnten sprachlichen Bild zu bleiben.
Platz 5: Kultur und Kunst stärken (Uta Belkius, BTW-K-01-001-1): Was die Reihenfolge der beiden Substantive anbelangt, so bin ich hier leidenschaftslos. Das belletristische „beflügeln“ durch das sachliche und vor allem genauere „stärken“ zu ersetzen, ist wiederum erneut eine sprachliche Verbesserung.
Platz 4: Gutverdiendende (Dieter Janecek, BTW-H-01-165): Es wird einige überraschen, aber ich teile hier die Kritik am Begriff „Gutverdienende“, auch wenn ich den Antrag im Zusammenspiel mit anderen eher für ein Ablenkungsmanöver halte. Auch dieses ändert nichts daran, dass „Gutverdienende“ ein unpräziser Begriff ist, der geeignet ist, die Wahlkämpfenden in fruchtlosen Diskussionen alleine zu lassen. Das Adjektiv „gut“ drückt eine Wertung aus, um die es bei der hier beschriebenen Steuermathematik nicht gehen kann. Eine komplette Streichung des Satzes wird es allerdings nicht geben, doch die Antragskommission wird wohl immerhin eine Modifikation vorschlagen.
Platz 3: Geschlechtsneutrale Sprache auch in Komposita (Friederike Schwebler, BTW-01/10): Es ist bequem, gleich am Anfang in die allgemeinen Anträge zu schauen. Und es ist bekannt, dass einige vornehmich männliche Kommentatoren nicht einsehen wollen, dass das Konstrukt des „generischen Maskulinums“ im Kern sexistisch ist. Wenn wir nun grundsätzlich geschlechtsneutrale Sprache verwenden, aber Komposita davon ausnehmen, kommen wir zum Beispiel in die blöde Situation, zwar zunächst von „VerbraucherInnen“ zu reden, aber beim „Verbraucherschutz“ nur die Männer zu schützen. Das möchte dieser Antrag, zu dessen Unterstützer_innen auch ich gehöre, vermeiden. In vielen grünen Landtagswahlprogrammen wurde das bereits problemlos so praktiziert.
Platz 2: Vermutlich habe ich mir meine Silbermedaille für „Die Formulierung ‚es braucht‘ braucht es nicht“ durch die offensive Überschrift verdient. So war der Antrag natürlich nicht schwer zu finden. Leider gelingt es den meisten Menschen dann nicht, den Antrag und seine Begründung vollständig durchzulesen. Das könnte helfen, das Problem zu verstehen. „Es braucht“ drückt nicht aus, wer die Handlung ausführen soll und ist passiv im Sinne von „irgendjemand soll mal was machen“. „Es braucht“ verzichtet auch auf eine Beschreibung, für wen oder wozu die Maßnahme gedacht ist, also wer oder was „es“ ist. Ich halte „es braucht“ daher für keinen geeigneten Weg, mit möglichen Wähler_innen zu kommunizieren. Der Antrag ist einfach nur ein weiteres Beispiel dafür, dass sprachliche Verbesserungen auch den Inhalten zugute kommen können.
Platz 1: Duzen (Karl Bär, BTW-PR-01/02): Die Aufregung über diesen Antrag übersieht, dass die direkte Ansprache im Programm selten vorkommt und sich nur auf die Präambel beschränkt. Eine salomonische Lösung wäre jetzt, beide Varianten anzubieten, damit Wähler_innen selbst entscheiden können, wie sie von uns angeredet werden wollen. Ich befürchte, das wird nicht realisierbar sein – aus finanziellen Erwägungen.
Das kann nur bedauert werden.
Insgesamt finde ich jedenfalls: „Kurios“ ist etwas anderes.