Wie eine Personaldebatte besser nicht eröffnet oder geführt werden sollte, zeigt sich seit Freitag letzter Woche durch das Getöse, das Boris Palmer angezettelt hat. Dem grünen Oberbürgermeister von Tübingen passt es nicht, dass die „Spitzenkandidaturen“ für die Bundestagswahl 2013 offenbar auf Claudia Roth und Jürgen Trittin hinauslaufen. Die gekonnt über die Medien vorgetragene Kritik führte dabei zu nichts, jedenfalls zu nichts Gutem, Dazu meinerseits mal ein paar Kommentare.
Erste Ebene: Wie bewerten wir Personalfragen?
- „Spitzenkandidaturen“ sind ein mediales Konstrukt. Sie dienen dem Zweck, das Personal einer politischen Kraft auf wenige Personen zu reduzieren, weil alle Menschen, die die Inhalte jener politischen Kraft vertreten, darzustellen, dem medialen Anspruch zuwiderläuft, Inhalte plakativ darzustellen. Außerdem ist eine Auseinandersetzung weniger Personen viel einfacher zu inszenieren als eine Auseinandersetzung vieler inhaltlicher Positionen. Eine Partei, die davon ausgehen darf, nach einer Wahl nicht den Regierungschef zu stellen, braucht keine Spitzenkandidat_innen. Deswegen hinkt im übrigen auch der Vergleich mit der Landtagswahl in Baden-Württemberg. Da war die Spitzenkandidatur einer Einzelperson sinnvoll.
- Das Wahlsystem zum Deutschen Bundestag bewirkt, dass die Mandate in den einzelnen Bundesländern vergeben werden. Damit ergeben sich bei Doppelspitzen in 16 Bundesländern 32 „Spitzenkandidaturen“. Eine Reduzierung auf weniger Personen entwertet die profiliertesten Leute in den einzelnen Ländern.
- Wenn es wirklich „um Inhalte“ geht, müssen gerade wir Grünen darauf drängen, stärker diejenigen in den Vordergrund zu rücken, die diese Inhalte vertreten. Das sind in erster Linie die zahlreichen Fachleute der vermeintlichen „zweiten Reihe“. Hier geht der Vergleich mit der politischen Konkurrenz auch klar zum grünen Vorteil aus.
- Der Verdacht liegt nahe, dass die vermeintlichen grünen „Spitzenleute“ weitaus stärker an der personellen Hierarchie „an der Spitze“ interessiert sind als die potentiellen Wähler_innen.
- Wollen wir nicht Hierarchien überwinden?
Ergebnis: Es spricht einiges dafür, sich „Spitzenkandidat_innen“ nicht aufdrängen zu lassen, wo sie nicht nötig sind.
Zweite Ebene: Wie führen wir eigentlich Diskussionen?
- Als vor knapp zwei Jahren Boris Palmer seine Kandidatur für den Parteirat der Bundespartei ankündigte, fand ich das erstmal gut. Dass Palmer ein erwiesener Vertreter des Realo-Flügels ist, sah und sehe ich nicht als Problem an, zumal mir viele seiner Positionen umgekehrt auch angenehm radikal erscheinen. Wer innerparteiliche Flügelbildung an sich als positiv ansieht, muss dem jeweils anderen Flügel auch seinen Raum zugestehen. Außerdem schien mir eine Vertretung der kommunalen Ebene sinnvoll.
- Die Interpretation des Parteiratsmandates durch Boris Palmer gefällt mir wie vielen anderen nicht. Diskussionen sollten, auch wenn sie oft unbestritten notwendig sind, nun mal nicht in erster Linie über Medien geführt werden. Damit wird auch eine Hierachie aufgebaut, die denjenigen mit gutem Medienzugang einen Vorteil verschafft. Diese Art, die Debatte zu verzerren, ist es dabei erst, die den Unmut hervorruft.
- Selbst wenn die Analyse in einiger Hinsicht stimmt: Die Frage, wie die gesamte Bandbreite der Partei im Wahlkampf dargestellt werden kann, allein auf der Ebene einer Person (der Spitzenkandidatin) lösen zu wollen, spricht dafür, dass diese Analyse hier nur vorgeschoben ist.
Dritte Ebene: Wie gehen wir mit der Situation jetzt um?
- So unglaublich links ist Jürgen Trittin in vielen Fragen nun auch wieder nicht.
- Vor nicht allzu langer Zeit haben wir gemeinsam ein Verfahren festgelegt, das den Weg zu „Spitzenkandidaturen“ beschreibt. Gibt es mehr als zwei (quotierte) Kandidat_innen, kann eine Urwahl entscheiden. Bislang gibt es aber noch gar nicht so viele Kandidaturen.
- Am Ende kann in den Bundestag nur gewählt werden, wer von der Wahlversammlung eines Landesverbands auf einen vorderen Listenplatz (in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen genügt auch der mittlere Zehnerbereich noch) gewählt wird. Bei einigen Listenaufstellungen sind dabei Überraschungen zumindest nicht auszuschließen.
- Ich bin weiterhin der entschiedenen Auffassung, dass wir im Wahlkampf besser darstellen sollten, wie viele gute Leute bei Grüns für den Bundestag kandidieren und nicht versuchen sollten, darauf zu beharren, dass die zwei „an der Spitze“ die Tollsten von allen sind. Wäre auch mal ein Beitrag zur Glaubwürdigkeit.
Disclaimer: In diesem Beitrag äußern sich nicht „die Greifswalder Grünen“, sondern Kay Karpinsky, der hier schreiben kann, weil er grünes Mitglied im Kreis Vorpommern-Greifswald ist. Leider kapieren das hier ja viele Kommentierende nicht.