Eine politische Bildungsreise führte mich am vergangenen Wochenende nach Böblingen, wo der grüne Landesverband Baden-Württemberg auf einer Delegiertenkonferenz unter anderem eine Landesliste aus 19 Frauen und 19 Männern für die kommende Bundestagswahl wählte. Ich wollte aus der Nähe herausfinden, woran das eigentlich liegt, dass Baden-Württembergs Grüne so besonders erfolgreich sind.
Schnell ist ja bei solchen Fragestellungen die Rede von der „Mitte der Gesellschaft“, in der Grüne jetzt angekommen seien. Oder davon, dass so eine Mitte sich auf uns Grüne zubewegt habe. Das ist mir allerdings zu unbestimmt. Meine Vermutung war daher, dass es nicht zuletzt eine Frage der Qualität ist. Der Landesverband Baden-Württemberg hat für seine jüngeren Erfolge auf Landes- und kommunaler Ebene eine Menge an kompetenten Menschen benötigt, um die Wahlerfolge in erfolgreiche Vorhaben umsetzen zu können. Das Bemerkenswerte ist nun, dass immer noch ein beachtliches Reservoir an begabten Leuten existiert, um eine ziemlich lange Bundestagsliste zu besetzen. Als am Samstagabend nach der Wahl zu Listenplatz 24 die Versammlung mit einer kleinen Feier ausklang, war mit Blick auf die bis dahin Gewählten offensichtlich, dass da keine_r darunter war, der oder dem eine gute Figur in Berlin partout nicht zuzutrauen wäre. Für einige der noch nicht so Etablierten gilt natürlich die bekannte Grundregel, dass Frau an ihren Aufgaben wächst.
Ich erlebte dazu eine hohe Ernsthaftigkeit und Gewissenhaftigkeit – beim ersten Wahlgang am Sonntagmorgen waren schon 80% der Delegierten anwesend – sowie eine hohe Professionalität, angefangen bei einem erstklassigen Präsidium. Gleichzeitig vermeiden es auch diejenigen, die jetzt wichtige Funktionen in Partei, Fraktion oder Regierung ausfüllen, durch zu große Distanz abzuheben. Auf die Anbindung an die Basis wissen auch aufmerksame Mitarbeiter_innen der Funktionsträger_innen zu achten.
Bei der letzten Bundestagswahl hatten wir Grüne in Baden-Württemberg 13,9%, bei der Landtagswahl 2011 24,2%. Innerhalb dieser Spanne ist viel möglich, auch die Konstellation am Wahlabend – wer scheitert an der Sperrklausel, wie viele Ausgleichsmandate gibt es, usw. – macht Vorhersagen schwierig. Die Vorsichtigen gehen von 16 Sitzen aus (ca. 19%), Optimist_innen von 19 Mandaten (ca. 23%) oder noch mehr. Damit wird es für die amtierenden MdBs Ingrid Hönlinger und Memet Kilic auf 17 und 18 möglicherweise eng. Ansonsten werden elf der ersten zwölf Plätze von Etablierten (8 MdB, 1 MdEP, Vorsitzende der Bundes- und Landespartei) belegt. Erfolgreichster Neuling ist auf Platz 10 Matthias Gastel aus Filderstadt. Weitere Neue auf den aussichtsreichen Plätzen 13–16 sind Annette Weinreich (Ulm), Danyal Bayaz (Heidelberg), Margit Stumpp (Heidenheim) und Eugen Schlachter (Maselheim).
Wie ist diese Liste nun zu deuten, oder: Worauf kam es an?
Der erste Faktor heißt „Themen und Trends“: Erstmal ist es gerade jenseits des „Spitzenpersonals“ wichtig, überhaupt auf einem Fachgebiet profundes Wissen zu dokumentieren. Darüberhinaus gibt es bestimmte Themen, die der Mehrheit der Delegierten besonders wichtig sind. Was zum Beispiel gut ankam, waren die Themen Verkehr (mit Chris Kühn und Matthias Gastel auf 6 und 10) und Energie (wo fast alle irgendwie eine Verbindung herstellten). Harald Ebner überzeugte mit grüner Agrarwende, Annette Weinreich punktete erfolgreich mit Bau- und Wohnungspolitik. Und das liebe Geld ist den Schwaben und auch den Badenern natürlich furchtbar wichtig. Cem Özdemir legte da genauso einen Schwerpunkt wie erwartungsgemäß Gerhard Schick. Und die Beliebtheit des Genossenschaftsbankers Eugen Schlachter erschließt sich auch nur denen, die mit der südwestdeutschen Volksseele schon mal eingehendere Erfahrungen gemacht haben. Eher knifflig war es hingegen für Leute mit bestimmten Sozialthemen. Wo zum Beispiel Kerstin Andreae oder auch Nese Erikli (Platz 21) zum Sozialen wohl Mindestlohn (okay) zählen, aber auch die an sich eigenständigen Felder Frauen und Bildung, über andere Fragen wie die der Verteilung hingegen keine Worte verlieren, wird klar, dass viele dieser anderen Fragen in einer Region mit annähernder Vollbeschäftigung nicht im Vordergrund stehen. Bei der Frage der Sanktionen nach SGB II war allerhöchste Vorsicht geboten. Die Position dezidierter Ablehnung gekonnt zu verpacken gelang Sylvia Kotting-Uhl und Jörg Rupp nicht, Beate Müller-Gemmeke bewältigte die Gratwanderung am erfolgreichsten.
Auf eine Art Regionalproporz wird offensichtlich nicht geachtet. Bei Platz 17 war der Zwischenstand Baden gegen Württemberg mal 5:12. Die mitgliederstarken Kreisverbände Stuttgart, Ludwigsburg und Esslingen unterstützten Kandidat_innen aus dem Mittleren Neckarraum, wo sie nur konnten. Nutznießerin aus widerstreitenden Interessen war oft die Region Südwürttemberg, das mit fünf Leuten unter den ersten 16 jetzt sehr gut vertreten ist. Südbaden hingegen war nach der Spitzenkandidatin erst wieder auf Platz 19 dran, möglicherweise auch nur deswegen, weil der Region Stuttgart irgendwann die Frauen „ausgingen“.
Der Umschlag von Mitgliederzahlen auf Wahlerfolge macht die Bedeutung des Faktors Vernetzung deutlich. Wer nicht mindestens vor eineinhalb Jahren systematisch begonnen hat, Verbündete für die eigenen Ambitionen zu suchen, sah meist schlecht aus. Ohne eine verlässliche Basis durchzustarten geht bei der Größe des LV Baden-Württemberg nicht mehr.
Die jeweilige Konstellation, die Tagesform und der Zufall gewannen gleichwohl ab Platz 10 an Bedeutung, da es bei knappen Rennen darauf ankam, die Unentschlossenen und nicht in Absprachen Eingebundenen zu überzeugen. Am meisten Zufall war bei Platz 15 im Spiel, wo im ersten Wahlgang vier Frauen sehr dicht beieinander lagen. Es gewann dann mit Margit Stumpp die am wenigsten bekannte, auch weil sich keine relevante Gruppe bei ihr im Vorfeld auf eine klare Nichtwahlempfehlung verständigt hatte.
Was die Trendforschenden in den Medien natürlich am meisten interessiert, sind die jeweils aktuellen Verhältnisse der Flügel, oder besser, der Strömungen. Bis Platz 12 entwickelte sich da zunächst ein Gleichstand von 6:6. Dabei war es letztlich eher symbolisch, dass auf Platz 1 und 2 jeweils die Realpolitiker_innen gewannen. Auch der Durchmarsch der Linken zwischen 3 und 7 war ein scheinbarer, begünstigt durch die zunächst bessere Taktik und das Ausnutzen bekannter Antipathien. Bis 10 bzw. 12 war das alles wieder ausgeglichen. Auf Platz 13 wurde Annette Weinreich nach meiner Einschätzung eher „quer zu den Strömungslinien“ gewählt. Platz 14 erlebte hingegen mit der Stichwahl zwischen Danyal Bayaz und Memet Kilic die maximale Polarisierung. Bei Memet, amtierender MdB, war klar, dass er nicht dazu neigt, im Interesse besserer Nominierungschancen bei kontroversen Fragen Kreide zu fressen. Danyal wiederum gab mit einer für meinen Geschmack arg lauten und aggressiven Vorstellung zu erkennen, dass es auch ihm nicht zuerst um Sympathiepunkte geht. Beide waren als Vertreter ihrer Strömung klar zu erkennen und alle mussten sich entscheiden. Danyal bzw. der Realoflügel gewann knapp mit 104:97 und so würde ich das aktuelle Kräfteverhältnis auch beschreiben.
In einigen Fällen führte das dann zu einer gewissen Gnadenlosigkeit. Einige Kandidat_innen unterlagen in mehreren Wahlgängen ziemlich knapp und kamen erst auf unsicheren oder kaum aussichtsreichen Listenplätzen zum Zuge. Neben Memet Kilic betraf das auch die Feministin Ina Rosenthal aus Lörrach (Platz 23). Beide hätten bei einem Präferenzwahlverfahren (STV), das starke Minderheiten besser berücksichtigt, vermutlich besser abgeschnitten.
Einige Dinge gab es noch, die durch gehäuftes Auftreten auffielen und bisweilen etwas nervten.
Auf die junge Angewohnheit, zum Ende der Vorstellung oder der Wiedervorstellung noch mal ein lässiges „Mein Name ist XY und ich stehe für…“ in den Saal zu näseln, machte mich Till Westermayer aufmerksam. Möglicherweise sieht so die Amerikanisierung des Wahlkampfs aus.
Im Januar wird für den designierten Stuttgarter Oberbürgermeister Fritz Kuhn noch Susanne Kieckbusch aus Balingen in den Bundestag nachrücken. Ihre Versuche, auch diesmal einen aussichtsreichen Listenplatz zu erhalten, endeten dank unzureichender Selbsteinschätzung und einem „pampigen“ (Lukas Emele) Auftritt auf Platz 35. Die Ablehnung war strömungsübergreifend.
Als neuer Eintrag für künftige Bingospiele qualifizierte sich die „Region mit viel Potenzial für erneuerbare Energien“. Es liegt ja auf der Hand, dass große Windkraftanlagen nicht mitten in großen Städten gebaut werden, aber was die Vorzüge der Region mit den Vorzügen Kandidierender zu tun haben, bleibt unklar. Manchmal war dieser Satz eine Variante derer, die mit Nachdruck darauf drängten, dass auch „der ländliche Raum“ bzw. „nicht nur die großen Städte“ angemessen auf der Liste vertreten sein solle. Das führt allerdings zwangsläufig zu Definitionsproblemen. Ab wann ist eine Stadt „groß“ und was ist mit suburbanen Räumen? Und was ist überhaupt mit heterogen zusammengesetzten Wahlkreisen? Zählt Beate Müller-Gemmeke unter große Stadt (Reutlingen) oder Verdichtungsraum (Mittlerer Neckar), oder suburbaner Raum (Pliezhausen-Dörnach) oder darf sie auch den ländlichen Raum vertreten (die südlichen zwei Drittel ihres Wahlkreises)?
Eng mit diesem Problem verwandt ist der „Landkreis, der dringend eine grüne Stimme in Berlin braucht“. Diese Umkehrvariante der Not-in-my-Backyard-Politik gab es erwartungsgemäß zum Beispiel aus Waldshut. Sie wurde absurd, als sie von einer Kandidatin aus dem Rhein-Neckar-Kreis mit vier grünen Landtagsabgeordneten angeführt wurde.
Auch zur Frage, ob wir Grünen uns zunehmend zur Nannypartei („Verbieten das!“) entwickeln, ließe sich einiges schreiben. Das baden-württembergische Nannytum drückt sich dabei weniger im aktiven Verbieten aus, sondern in bestimmten Formen der Ambitionslosigkeit und dem Bedürfnis, alles Mögliche weichzuzeichnen. Ein Indiz dafür ist der immer wieder betonte „Mittelstand“. Natürlich ist es nicht falsch zu fragen, wo der eigene Wohlstand herkommt, aber wo mancher schon glaubt, mit Mittelstandsförderung Nazis bekämpfen zu können (Dennis De, Platz 22), ist das zu viel des Guten. Der Fragenkatalog der Grünen Jugend offenbarte bei einigen Kandidat_innen großen Nachholbedarf im Bereich der Innen- und Drogenpolitik. Trotzdem (oder deswegen?) wurde Eugen Schlachter mit der tödlichen Kombi „Mittelstand im ländlichen Raum“ problemlos auf Platz 16 gewählt. Das gibt also künftig viel Spaß im Haushaltsausschuss mit Sven Kindler. Gesellschaftspolitisch ambitionslos sind in erster Linie diejenigen Frauen, die die „Frauen- und Familienpolitik“ immer noch in einem Atemzug nennen oder von sich selbst im „generischen Maskulinum“ sprechen.
Bei Jessica Messinger, die als Kandidatin der Grünen Jugend auf Platz 29 kandidiert, wo sie ohne Gegenkandidatin mit 91% gewählt wurde, fragte ich mich, warum sie nicht früher eingestiegen ist. Ihre Bewerbungsrede mit klaren Schwerpunkten auf Frauenpolitik, Partizipation und Generationengerechtigeit war am Sonntagvormittag das Beste seit Platz 13.
Interessant wird so ein Wochenende nicht zuletzt durch die vielen Gespräche und Begegnungen am Rande. Hierfür gehen die Blumen zunächst an meinen Gastgeber Jan, außerdem an Till, Michael, Gunther, Annette, Wolfgang, Inge, Jörg, Christian, Sylvia, Jürgen, Thomas, Carsten und Christoph.
Die baden-württembergischen Grünen sind jedenfalls nicht ohne Grund sehr erfolgreich.
Schöner Bericht.
Lieber K.
toll reflektiert!
Sehr aufmerksam beobachtet!
Das war jetzt gerade für mich sehr aufschlussreich, da ich aus bekannten Gründen nicht immer alles so nüchtern und neutral beobachten konnte.
Wenn Du mal wieder Lust auf Ulm hast, sag Bescheid. Wir haben jetzt ein schönes GRÜNES Haus.
LG
AW
Einiges richtig, aber nicht alles. Gute Reflektion.Fehlt nur der Faktor Strategie. Auch bei dem Eindruck, den manche von sich machten. 🙂 Bis hin zur Selbstverleugnung…
[…] ausführlichen Bericht mit einigen Einschätzungen dazu, warum manche Abstimmung so ausgefallen ist, wie sie ausgefallen […]