Straßensozialarbeit in Greifswald vor dem Aus?

GRÜNE Bürgerschaftsfraktion sorgt sich um die Zukunft der Straßensozialarbeit

Viele Kinder und Jugendliche, besonders in den Stadtteilen Schönwalde I und II, kennen kaum ein Familienleben mit gemeinsamen Mahlzeiten und Aktivitäten und sind in ihrer Freizeit hauptsächlich in ihrem Stadtteil „unterwegs“. Alkohol und andere Drogen sind dann schnell im Spiel, Schulverweigerung und andere Probleme lassen Krisen und Notsituationen bei den Kindern entstehen.

Wer kann in solchen Situationen Ansprechpartner für die Kinder und Jugendlichen sein? Oftmals sind dies die Straßensozialarbeiter, die schwerpunktmäßig in diesen beiden Stadtteilen unterwegs sind und denen die Kinder vertrauen. Dies bestätigt auch die Kreisverwaltung auf eine Kleine Anfrage von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nach der Situation der Straßensozialarbeit in Greifswald.

Die betroffenen Kinder in Schönwalde I oder II haben dann Glück gehabt – die Kinder in anderen Stadtteilen haben vielleicht nicht so viel Glück. Denn in Greifswald arbeiten seit diesem Jahr nur noch zwei Straßensozialarbeiter/-innen (bis 2007 waren es immerhin noch vier) – und diese müssen sich zwangsläufig auf die Bereiche konzentrieren, in denen der Bedarf am größten ist. Dabei ist es gleich, welche Tag- oder Nachtzeit gerade ist. Die Straßensozialarbeiter Dorit Weidemann oder Hans Guderian stehen rund um die Uhr zur Verfügung. So klingelt das Telefon auch mal nachts um 1 Uhr – und natürlich kommen sie auch dann zu Hilfe.

Doch wie lange werden diese zwei Mitarbeiter/-innen der Verwaltung das noch leisten können? Wie sieht überhaupt die Zukunft der Straßensozialarbeit in Greifswald aus? „Die Antwort auf diese Frage war alarmierend.“, so Anja Reuhl, GRÜNES Mitglied im Sozial- und Jugendausschuss der Stadt und zitiert die von Landrätin Syrbe (Die LINKE) unterzeichnete Antwort: “Straßensozialarbeit nach der vorliegenden Konzeption für Greifswald ist im Flächenkreis so nicht umzusetzen.“

Tatsächlich enden 2014 Arbeitsplatzbindung und Kündigungsschutz der Straßensozialarbeiter/-innen in Greifswald. „Da kann man die doch etwas schwammige Antwort der Landrätin schon so deuten, dass diese Stellen spätestens nächstes Jahr für Greifswald auslaufen sollen und die Stadt dann ganz ohne Straßensozialarbeiter dasteht.“ Die Stadt hat auf diese Entscheidung derzeit keinen Einfluss. Mit der Kreisgebietsreform sind die Stellen der Straßensozialarbeiter auf den Kreis übergegangen.

Wie die Präventionsbeauftragte, Frau Dr. Dembski, in ihrem Jahresbericht betonte, sind die Straßensozialarbeiter aber wichtige Partner bei der Präventionsarbeit in der Stadt. Es muss daher auch der Stadt daran gelegen sein, die Straßensozialarbeit vor Ort zu erhalten. „Wir müssen gemeinsam mit dem Kreis unbedingt eine Möglichkeit finden, die Straßensozialarbeit in Greifswald zu erhalten. Es liegt in der Natur ihrer Arbeit, dass die Straßensozialarbeiter nicht laut und auffällig arbeiten, sondern im Hintergrund. Ihre Bedeutung droht daher unterschätzt zu werden. Wie wichtig sie ist, werden viele wohl erst sehen, wenn es die Straßensozialarbeit nicht mehr gibt. Dann ist es aber zu spät.“, drängt Anja Reuhl. „Wir hoffen, dass sich beide Seiten an einen Tisch setzen und eine Lösung erarbeiten. Gerne werden wir diesen Prozess auch unterstützen.“

Ein Kommentar bei „Straßensozialarbeit in Greifswald vor dem Aus?“

  1. Viele Kinder und Jugendliche, besonders in den Stadtteilen Schönwalde I und II, kennen kaum ein Familienleben mit gemeinsamen Mahlzeiten und Aktivitäten und sind in ihrer Freizeit hauptsächlich in ihrem Stadtteil „unterwegs“. Alkohol und andere Drogen sind dann schnell im Spiel, Schulverweigerung und andere Probleme lassen Krisen und Notsituationen bei den Kindern entstehen.

    Aus einer Hommage von Götz Eisenberg:

    Es gibt lakonische Bemerkungen von Alexander Kluge, die hoch verdichtet, gewissermaßen in Pillenform, den ganzen Kosmos der gegenwärtigen Gesellschaft enthalten und erhellen. “Sinnentzug. Eine gesellschaftliche Situation, in der das kollektive Lebensprogramm von Menschen schneller zerfällt, als die Menschen neue Lebensprogramme produzieren können.” Dieser Satz, mit dem Alexander Kluge sein Buch Lernprozesse mit tödlichem Ausgang aus dem Jahr 1973 eröffnet, hat mir einen verstehenden Zugang von weit verbreiteten gegenwärtigen Leidenserfahrungen eröffnet. Das Kapital ist schnell und dynamisch, die Menschen sind eher langsam. Ihre Fähigkeit, innerhalb ihrer Lebenszeit und auf der Basis einer erworbenen Identitätsstruktur und charakterlicher Prägungen Veränderungen zu verarbeiten, ist begrenzt. Immer mehr Menschen machen angesichts des forcierten gesellschaftlichen Wandels die Erfahrung von „Sinnentzug“: Was sie in Kindheit und Jugend gelernt und verinnerlicht haben, passt irgendwann auf kein Lebensgelände mehr so richtig. Vielen von ihnen geht es wie Meister Anton, der am Ende von Friedrich Hebbels Theaterstück „Maria Magdalena“ sinnend stehen bleibt und ausruft: „Ich verstehe die Welt nicht mehr.“ Sie haben mit dem Fortgang des Ganzen nichts mehr zu tun und fühlen sich angesichts des Zusammenbruchs des Reichs des Vertrauten verstört und entwertet. Der forcierte gesellschaftliche Wandel erschüttert das eingespielte Gleichgewicht zwischen der Struktur der äußeren Realität und der Identitätsstruktur der Menschen und wird zur Quelle von Wirklichkeitsverlust und seelischer Krankheit. Das, was aus Gegenwart und Zukunft auf die Menschen zukommt, fügt sich ihrer Verarbeitungsroutine nicht mehr. Immer mehr bisher gut angepasste Menschen haben das Gefühl, dass der Film der äußeren Realität schneller läuft als der innere Text, den sie dazu sprechen. Sie fühlen sich aus ihrer Ordnung der Dinge katapultiert, desorientiert, entwirklicht und werden von der Angst heimgesucht, eines nicht mehr fernen Tages vollends aus der Welt zu fallen.

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